Vor 74 Jahren wurde in Berlin die Kapitulation Deutschlands besiegelt. Der 8. Mai gilt seitdem für die einen als Tag des Kriegsendes, für die anderen als Tag der Befreiung. So ein richtiges Verhältnis haben die Deutschen zu diesem Ereignis noch nicht gefunden, auch weil es immer um das schwierige Verhältnis zu Russland geht. Gerade aber in einer Zeit, wo wieder viel über Kriegsgefahr und Bedrohung geredet wird, sollten wir Deutschen eher auf Dialog statt auf Konfrontation setzen.
Vor zwanzig Jahren lernte ich Wassili Ustjugow kennen. Es war der 18. April 1999. Die Eröffnung des neu gestalteten Reichstags fand am nächsten Tag, statt. Berlin wurde wieder zur deutschen Hauptstadt. Wir hatten in der ARD die Idee, einen der letzten sowjetischen Soldaten nach Deutschland zu holen, die den Reichstag in den letzten Apriltagen 1945 erobert hatten.
Begegnung mit sowjetischem Veteran
Wassili Ustjugow war mit 200 Kameraden an der Prenzlauer Allee mit seiner Panzerjägereinheit in diese letzte Schlacht des Krieges geschickt worden. Vier Soldaten erreichten den Reichstag. Ich sah seine Tränen in der Gedenkstätte Berlin-Schönholz, wo die Toten seiner Einheit beerdigt worden waren.
Als wir vor dem Reichstag standen, wusste er noch ganz genau, wo seine Kanone gestanden hatte. Er erinnerte sich, wie er die letzten Stufen zum Westportal des Reichstags im Sturmangriff nahm, unter der Inschrift „Dem deutschen Volke“. Sicher dachte Wassili Ustjugow im Kampf mehr an sich, an sein Land. Aber er eroberte dieses Gebäude auch für das deutsche Volk zurück.
Als wir dann den sanierten Reichstag besichtigten, strich er mit zitternder Hand über die Inschriften sowjetischer Soldaten im Nordflügel aus den Maitagen des Jahres 1945. Über ihren Erhalt war lange gestritten worden. Ustjugow hatte sich dort nicht verewigen dürfen, weil die Kampfeinheiten sofort nach der Eroberung des Reichstags abgezogen worden waren. Es war einer der emotionalsten Drehs als Journalist. Es war, als würde ein Stück Geschichte noch einmal lebendig werden.
Entfremdung zwischen Deutschland und Russland
Das ist lange her. Heute ist uns oft Russland ferner als damals in den Neunzigern, als Gorbatschow unser Held war, Jelzin nicht gerade nüchtern in Berlin Orchester dirigierte und etwas später Putin im Bundestag sprach. Doch nun haben wir uns entfremdet.
Sicher hat es auch mit der russischen Politik zu tun. Die Annektion der Krim, die Auseinandersetzungen mit der Ukraine. Aber es hat vielleicht auch mit unserem Selbstverständnis zu tun. In der Politik, gerade in der Union, tun sich viele immer schwer mit dem Wort „Befreiung“, wenn es um den 8. Mai 1945 geht.
Der Schauspieler Christian Grashoff, selbst Kriegskind und Flüchtling, aber auch Beobachter der Gesellschaft, charakterisierte vor Kurzem in einer Veranstaltung sehr treffend die vorherrschende deutsche Sicht auf den Zweiten Weltkrieg: „Man habe den Krieg nicht verloren, sondern nur nicht gewonnen.“
Fehlende Sensibilität für russische Bedenken
Gerade was Russland angeht, fehlt es dabei auch für mich an Sensibilität. Vor einigen Jahren gab es im Bundestag eine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Libanon. Viele Abgeordnete bewegte, ob man mit Blick auf unsere deutsche Vergangenheit wirklich deutsche Soldaten so nah an Israels Grenzen stationieren könne.
Diese Debatten gab es nicht, als es darum ging, Bundeswehrsoldaten in die baltischen Länder zu entsenden, nah der russischen Grenze. Da spielten 20 Millionen Tote auf sowjetischer Seite im Zweiten Weltkrieg in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Aber dieses Trauma der Russen spielt bei ihren sicherheitspolitischen Überlegungen immer eine Rolle.
Deshalb wäre es besser, statt Truppen an der Ostgrenze der Nato zu stationieren, im Nato-Russland-Rat darüber zu reden, wie man das Verhältnis wieder entspannen könnte – ohne Diktat von Vorbedingungen. Doch es herrsche ein neuer Kalter Krieg, bilanziert Horst Teltschik, ehemaliger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, früher Berater im Kanzleramt von Helmut Kohl.
Die Krim sei nicht Problem Nummer eins, meinte er im Deutschlandfunk, „sondern was mir am meisten Sorge macht ist, dass wir vor einem gewaltigen neuen Wettrüsten stehen“. Und da legen nicht unbedingt die Russen vor. Sie haben im letzten Jahr ihre Rüstungsausgaben um 3,5 Prozent gekürzt.
Verhandlungen statt weiterer Konfrontation
Wie im letzten Kalten Krieg in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts müssen Nato und Russland über Abrüstung verhandeln. Auch nur über Verhandlungen wird man die Probleme zwischen der Ukraine und Russland aus der Welt schaffen können.
Allerdings sollten da nicht nur die Sicherheitsinteressen der Ukraine, sondern auch Russlands eine Rolle spielen. Zum anderen braucht man Russland, um internationale Konflikte wie in Syrien zu lösen. Jedes Ignorieren dieser Tatsache kostet Menschenleben, weil es die Kriege dort oder anderswo verlängert.
Besondere deutsche Verantwortung
Gerade wir Deutschen sollten dabei vorangehen, um das Verhältnis zu Russland wieder zu normalisieren. Und dabei nicht nur mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg. 1990 sprang Michail Gorbatschow über seinen Schatten als Staatschef der damaligen Sowjetunion und hat uns durch sein Einverständnis und mit sehr großem persönlichen Risiko bei den Strickjackentreffen auf der Krim mit Helmut Kohl – wie man es auch immer sehen mag – zum zweiten Mal befreit: von der deutschen Teilung. Aber wir sind es auch heute noch Wassili Ustjugow schuldig, weil er 1945 sein Leben für die Befreiung Deutschlands riskierte.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 08. Mai 2019 | 05:00 Uhr
Quelle: MDR vom 08.05.2019
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