Flüchtlings-Studie der UN – Wer flieht nach Europa?

Die Vereinten Nationen haben untersucht, wer derzeit nach Europa wandert. So seien es vermehrt Familien und Bauarbeiter, die aus Syrien und Afghanistan fliehen. Und die Studie zeigt ebenfalls: Auch andere Vorurteile stimmen nicht.

07.03.2016, von NIKOLAS BUSSE

© DPA Wer will nach Europa? 74 Prozent der syrischen Flüchtlinge gaben an, sie seien mit mindestens einem engen Familienangehörigen unterwegs.

Über die Flüchtlinge, die seit fast einem Jahr nach Deutschland kommen, weiß man immer noch erstaunlich wenig. Das öffentliche Bild schwankt zwischen dem Zahnarzt aus Syrien und dem Kleinkriminellen aus Marokko.

Das dürfte sicher nicht die Bandbreite an Einzelschicksalen und Lebenswegen abbilden, die in einer Gruppe von 1 091 894 Menschen – so viele wurden 2015 als asylsuchend in Deutschland registriert – zu erwarten sind. Die deutschen Behörden haben bisher wenig statistisches Material über die Angekommenen veröffentlicht. Ein paar Anhaltspunkte liefern die Vereinten Nationen, die kürzlich Migranten in Griechenland befragten. Daraus ergeben sich ein paar Erkenntnisse: Es scheinen nun mehr Familien zu kommen; bei der Wahl des Ziellandes spielen Wirtschaftskraft und Sozialsystem eine untergeordnete Rolle.

Nikolas Busse Autor: Nikolas Busse, Stellvertretender verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik.

Die Umfrage stammt vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, und fand zwischen dem 15. und 31. Januar auf mehreren griechischen Inseln statt. Befragt wurden die beiden größten Flüchtlingsgruppen: Syrer (222 Befragte) und Afghanen (191). Das ist nur ein Bruchteil der registrierten Flüchtlinge, so dass auch das UNHCR sagt, es handle sich lediglich um Hinweise auf das „Profil“ der beiden einreisenden Nationalitäten zur Zeit der Untersuchung. Die Erhebung soll monatlich wiederholt werden.

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Offenbar vermehrt Familien unterwegs

Auffällig ist zunächst einmal, dass bei den Syrern die Geschlechtsverteilung nicht dem gängigen Bild des vorwiegend männlichen Migranten entspricht. 49 Prozent der erfassten Syrer waren Männer, 32 Prozent Frauen, 19 Prozent Kinder. 44 Prozent gaben an, sie seien verheiratet, 53 Prozent bezeichneten sich als alleinstehend. 74 Prozent sagten, sie seien mit mindestens einem engen Familienangehörigen unterwegs. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass jetzt mehr Familien auf der Flucht sind als früher. Allerdings fehlen Vergleichswerte früherer Monate.

Bei den Afghanen war der Anteil der Männer deutlich höher, er lag bei 60 Prozent. Frauen machten 17 Prozent, Kinder 23 Prozent aus. Nur 61 Prozent gaben an, sie reisten mit mindestens einem engen Familienangehörigen. Allerdings sagten 42 Prozent der Afghanen, sie seien verheiratet; 45 Prozent von ihnen haben einen Ehegatten zurückgelassen (Syrer: 11 Prozent). Alleinreisende afghanische Männer sind offenbar nicht immer Junggesellen.

Schlepper Grund für unrealistisches Europa-Bild

Unterschiede zeigen sich beim Motiv für die Wanderung. In beiden Gruppen wird als Hauptgrund die Flucht vor einem Konflikt oder Gewalt genannt. Allerdings sagten das bei den Syrern mit 94 Prozent fast alle, während es bei den Afghanen 71 Prozent waren. Das dürfte mit einer Besonderheit der afghanischen Flüchtlinge zu tun haben: 19 Prozent gaben an, sie hätten noch nie in ihrem Heimatland gelebt, sondern in Iran. Weitere 26 Prozent haben vor der Ankunft in Griechenland sechs oder mehr Monate in einem anderen Land gelebt (Iran: 23 Prozent, Pakistan: 2, Türkei: 1). Fast die Hälfte hatte sich also schon vor der Ankunft in der EU in einem Drittstaat niedergelassen. Der wichtigste Grund, den sie für ihre Weiterreise angaben, war die Angst vor Ausweisung (25 Prozent). Es folgen die Arbeitsplatzsuche (17 Prozent), Mangel an Ausweispapieren (15) und Diskriminierung (15).


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Bei den Syrern war dieser Prozentsatz geringer. 34 Prozent gaben an, sie hätten sechs oder mehr Monaten in einem anderen Land gelebt, bevor sie nach Europa gezogen seien (Türkei: 25 Prozent, Libanon: 4, Irak: 2, Jordanien: 1). Menschen, die noch nie in Syrien gelebt hatten, wurden offenbar nicht angetroffen. Als Hauptgrund für die Weiterreise nach Europa gaben die Syrer mit 41 Prozent die Arbeitsplatzsuche an, 16 Prozent Diskriminierung in ihrem Aufenthaltsland. Syrer brauchen offenbar mehr Anläufe, um in die EU zu kommen als Afghanen: 15 Prozent sagten, sie hätten schon früher versucht, die griechisch-türkische Grenze zu überqueren; bei den Afghanen waren das nur drei Prozent. Und die Syrer nutzen andere Informationsquellen.

Auf die Frage, wie sie sich unterwegs über Route und Verfahren informierten, gaben 60 Prozent der Syrer an, dass ihre Reisegefährten die wichtigste Quelle seien; bei den Afghanen dagegen waren mit 77 Prozent Schlepper die wichtigsten Auskunftspersonen. Das mag erklären, warum sie weniger Versuche brauchen, um nach Griechenland zu kommen. Es dürfte aber auch ein Grund dafür sein, dass Afghanen oft ein besonders unrealistisches Bild von Europa haben.

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Syrer besser qualifiziert

Unterschiede zeigen sich auch bei den Gründen für die Wahl des Ziellandes in Europa. Obwohl das in beiden Gruppen meist Deutschland sein dürfte, sind die Motive dafür verschieden: Bei den Syrern wurde am häufigsten die Familienzusammenführung genannt (43 Prozent), es folgen mit 22 Prozent die Ausbildungsmöglichkeiten. Bei den Afghanen standen dagegen die Ausbildungsmöglichkeiten an erster Stelle (47 Prozent), vor der Beachtung der Menschenrechte (26). Wirtschaftliche Gründe für die Wahl des Ziellandes gaben in beiden Gruppen nur wenige an (Syrer: 14 Prozent, Afghanen: 11); auch das Sozialsystem war nur für 2 Prozent der Syrer und 13 Prozent der Afghanen ein Auswahlkriterium. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Flüchtlinge nicht ganz so auf Deutschland festgelegt sind, wie gemeinhin angenommen wird. Vielleicht würden sie auch in andere europäische Staaten gehen, wenn es dort gute Ausbildungsmöglichkeiten für sie gäbe.

Das UNHCR hat auch nach schulischen und beruflichen Qualifikationen gefragt, was wichtig für die Integration ist. Die Syrer erscheinen insgesamt besser qualifiziert. 29 Prozent der Erwachsenen gaben an, sie hätten eine Universität besucht; 23 Prozent eine Oberschule. 18 Prozent haben vor der Flucht im Dienstleistungssektor gearbeitet, 13 Prozent waren Studenten, 8 Prozent waren im verarbeitenden Gewerbe tätig. Bei den Afghanen gaben nur 13 Prozent an, eine Universität besucht zu haben; 25 Prozent waren auf einer Oberschule.

Die meisten Afghanen waren vor der Flucht Bauarbeiter (18 Prozent), Bauern (12 Prozent) oder arbeiteten im Dienstleistungssektor (11). Dass viele in Europa ein gutes Einkommen erzielen müssen, geht aus der Antwort auf die Frage hervor, wie sie die Reise finanziert haben. Bei beiden Gruppen war geliehenes Geld von Freunden (Syrer: 41 Prozent, Afghanen: 37) die wichtigste Quelle.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.03.2016

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