Gericht erlaubt 100-Prozent-Sanktion: Jobcenter dürfen widerspenstigen Hartz-IV-Empfängern das Geld komplett streichen

 

Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger

dpaBewerber suchen an einer Informationstafel eines Jobcenters nach offenen Stellen (Symbolbild)
Montag, 16.09.2019, 07:40

Ein Hartz-IV-Empfänger in Nordrhein-Westfalen wollte nicht arbeiten, weil er das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland ablehne. Das Jobcenter strich ihm daraufhin alle Leistungen. Zurecht, wie jetzt vor Gericht in einem „unanfechtbaren Beschluss“ entschieden wurde.

Immer weniger Hartz-IV-Empfänger Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) wurden zuletzt mit Sanktionen belegt. Doch wer bestraft wird, muss künftig mit extremen Konsequenzen rechnen: Jobcenter dürfen Hartz-IV-Beziehern die Leistungen komplett streichen, wenn diese ihre Mitwirkungspflicht verletzen. Genau das hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in einem Eilverfahren bestätigt, wie jetzt bekannt wurde.

Der „unanfechtbare Beschluss“ (Az.: L 7 AS 987/19) der Essener Richter bedeutet das vorläufige Ende eines kuriosen Verfahrens: Ein Jobcenter hatte einem Kunden auferlegt, sich jeden Monat nachweislich auf fünf Arbeitsstellen zu bewerben. Der Mann kam dieser Verpflichtung nicht nach. Seine Begründung: Grundsätzlich sei er der Auffassung, sich nicht um eine Arbeitsstelle bemühen zu müssen, da er „das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland“ ablehne.

Hartz IV: Kürzung um 60 Prozent galt bislang als höchste Strafe

Tatsächlich sind Hartz-IV-Empfänger jedoch verpflichtet, aktiv bei ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mitzuwirken. Die Mitwirkungspflichten sind in den Paragraphen 60 bis 64 des Sozialgesetzbuchs (SGB I) genau geregelt. Tun sie dies nicht und können sie keine wichtigen Gründe für ihr Versäumnis angeben, dürfen Jobcenter die Leistungen gemäß Paragraph 66 des Sozialgesetzbuchs (SGB I) kürzen. Normalerweise geschieht dies in mehreren Stufen. Als höchste Strafe galt bislang eine Kürzung der Leistungen um 60 Prozent.

Im aktuellen Fall wollte das Jobcenter die eigenwillige Begründung des Mannes nicht akzeptieren und strich ihm für drei Monate alle Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die vorangegangene Bewilligung hob es gleichzeitig wieder auf. Dagegen wollte sich der Mann juristisch wehren. Doch bereits das Sozialgericht Aachen bestätigte die Rechtmäßigkeit einer 100-Prozent-Sanktion gegen den widerspenstigen Leistungsempfänger.

Mann beruft sich auf offenes Verfahren beim Bundesverfassungsgericht

Die Richter des Landessozialgerichts stellten schließlich im Juli fest, dass nach der aktuell geltenden Rechtslage „mehr für als gegen die Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides“ gesprochen habe. Auch das Argument des Hartz-IV-Empfängers, dass ihm die Leistungen vorläufig zustünden, weil das Bundesverfassungsgericht noch nicht in der Frage entschieden habe, ob Sanktionen überhaupt zulässig sind, ließen die Richter nicht gelten.

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Der Mann – und auch das Gericht – nahmen dabei Bezug auf einen seit Jahren andauernden Streit über das Sanktionssystem der Jobcenter und eine mögliche Reform: 2015 hatte das Bundessozialgericht in Kassel entschieden, der Gesetzgeber könne die Gewährung von Sozialleistungen daran knüpfen, dass sich Empfänger kooperativ verhalten. Sei dies nicht der Fall, können sie auch sanktioniert werden.

Gericht: Gesetzeswidrige Leistungen dürfen nicht gezahlt werden

Das Sozialgericht Gotha allerdings hat in einem ähnlichen Fall die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II) infrage gestellt: Ein Kläger, der eine Kürzung der Leistungen um 60 Prozent nicht akzeptieren wollte, habe ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, so das Gericht. Dieses Existenzminimum kennzeichnet der Regelbedarf, der nicht unterschritten werden dürfe.

Nun muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden (Az.: 1 BvL 7/16). Die Karlsruher Richter wollen noch in diesem Jahr zu einer Entscheidung kommen. Bis zur Klärung der Frage könne ein Verweis auf das Verfahren zwar unter Umständen eine vorläufige Leistungsgewährung begründen, urteilten die Richter des Landessozialgerichts in Essen. Hier aber würde es sich um eine gesetzeswidrige Leistungsgewährung handeln. Mit anderen Worten: Das Jobcenter dürfe dem Mann keine Leistungen gewähren, die ihm nach geltendem Recht gar nicht zustehen.

Jobcenter sanktionierte 441.000 Männer und Frauen im vergangenen Jahr

Wie lange Jobcenter 100-Prozent-Sanktionen als Druckmittel anwenden können, ist allerdings fraglich. Die Richter in Karlsruhe ließen jedenfalls während der mündlichen Verhandlung im Januar erkennen, dass sie Sanktionen zwar nicht grundsätzlich infrage stellen, sie aber nur bis zu einer Höhe von maximal 30 Prozent des Regelsatzes erlauben werden.

Der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge wurden im vergangenen Jahr 904.000 Sanktionen verhängt – rund 49.000 weniger als 2017. Allerdings ist die Zahl der Betroffenen deutlich niedriger als die Zahl der Fälle, da manche Empfänger von Arbeitslosengeld II mehrfach sanktioniert werden. So waren im vergangenen Jahr insgesamt 441.000 Männer und Frauen von mindestens einer Sanktion betroffen. Mehr als 90 Prozent der Bezieher verhalten sich demnach regelkonform und bleiben von Strafen unberührt.

Quelle: Focus-online vom 16.09.2019 


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Kleiner Grauer
Kleiner Grauer
4 Jahre zuvor

Das Gothaer Urteil „liegt“ seit dem 28. 05. 15 in Karlsruhe. Die werden alles beugen was zu beugen geht um den Hartzern kein Recht zu geben! Laut GG haben wir kein Recht auf Arbeit-im Gegensatz zur DDR Verfassung. Das genauso ungültige SGB zum Hartz IV wurde so gegen das Volk umgebaut, daß nun jede Arbeit anzunehmen ist! Wenn die Irren arbeiten, dann arbeiten DIE grünlich. DIE wissen nicht warum, aber dafür mit aller Kraft.

kairo
kairo
4 Jahre zuvor

Wer das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland ablehnt, sollte konsequenterweise von diesem keine Leistungen annehmen. Dieses System ist nicht verpflichtet, Schmarotzer durchzufüttern.