Geldpolitik: Zu viel Risiken, zu viele Fehler: Die Zentralbanken sitzen in der Falle

 

Die US-Notenbank steht vor einer weitreichenden Entscheidung. Doch die Verwerfungen an den Märkten verunsichern die Zentralbanker. Die Fed steht vor den Folgen einer völlig verfehlten Geldpolitik. Die EZB schickt sich an, dieselben Fehler zu machen. Die Zentralbanken sitzen in der Falle. Sie finden keinen Ausweg.

Die amerikanische Notenbank entscheidet am 16. September ob die Zinsen unverändert bleiben oder tatsächlich erhöht werden. (Foto: dpa)

Die amerikanische Zentralbank hat seit rund einem Jahr die Märkte auf eine kommende leichte Normalisierung der Zinssituation vorbereitet. Sie hält seit mehr als sechs Jahren den Satz für Fed Funds bei null Prozent. Diese sehr sacht und behutsam, aber konsistent vorgenommene Kampagne hat ganz wesentlich zu einer Stärkung des Dollars beigetragen. Die vorher aufgesetzten carry trades vor allem in Schwellenländern wurden zurückgefahren, darum die teilweise so massive Reaktion der Währungen.

Die offizielle Diagnose ist ganz einfach und konventionell. In den Reden der Fed-Gouverneurin ist sie gut dargestellt. Ziel der amerikanischen Geldpolitik ist maximales Wirtschaftswachstum bei Preisstabilität. Diese Zielsetzung der Geldpolitik sei noch nicht erfüllt, aber nahe. Die Beschäftigung hat seit dem Tiefpunkt der Rezession wieder um rund 12 Millionen Stellen zugenommen. Sie liegt heute höher als auf dem konjunkturellen Höhepunkt im Jahr 2008. Die Arbeitslosenquote ist deutlich zurückgegangen. Ein Blick auf die Details der Arbeitsmarktstatistik enthüllt auch in der Analyse der Fed-Gouverneurin, dass das Bild etwas weniger positiv ist, als es in diesen Zahlen erscheint. Doch die weitere Festigung der Konjunktur und damit die Richtung Vollbeschäftigung werden nicht bezweifelt. Die Preisstabilität ist in den USA vom Fed seit 2012 definiert als 2% per annum, gemessen an der prozentualen Veränderung des Konsumdeflators (engl. personal consumer deflator, kurz PCE) im Vorjahresvergleich. Liegt die Inflationsrate nachhaltig tiefer, so wird sie als Risiko für eine deflationäre Entwicklung wahrgenommen.

Nach diesem Kriterium gäbe es derzeit noch keinen Grund für eine Straffung der Geldpolitik, verharrt doch die so definierte Inflationsrate penetrant unter 2% und ist 2015 eher noch am Sinken begriffen, auch ohne Erdöleinfluss. Das einzige Argument in den Vorträgen der Notenbankdirektorin ist die Wahrnehmung, dass die rückläufige Teuerung einem vorübergehenden Erdöl-Effekt entspringt. Anfangs nächsten Jahres sollte dieser auslaufen. Die Erdölpreise sollten dann keinen wesentlichen dämpfenden Einfluss mehr ausüben.

Diese konventionelle Analyse dürfte indes nur die halbe Wahrheit darstellen. Auch bei wohlwollender Betrachtung ist aus dieser Analyse nicht einsichtig, warum die Notenbank die Zinsen ausgerechnet jetzt anheben sollte. Der Arbeitsmarkt ist keineswegs so robust, dass eine beschleunigte Lohnsteigerung zu erwarten wäre. Der deflationäre Einfluss der Rohstoffpreise und die scharf nachlassende Weltkonjunktur könnten viel stärker ausfallen und länger anhalten, als dies von der Zentralbank bisher erwartet worden ist.

Die Straffung der Geldpolitik ist nur gerechtfertigt, wenn die Probleme einer Nullzinspolitik im generellen und die Preise für Vermögensgüter einbezogen werden. In den USA sind die Immobilienpreise wieder massiv angestiegen, nicht mehr überall und vor allem nicht mehr im unteren Preissegment, aber in besseren Lagen in ganz extremem Ausmaß. Die Finanzmärkte hatten bis vor kurzem einen spektakulären Höhenflug, mit viel zu engen Risikospreads und überhöhten Aktienpreisen.

Die ganze Wahrheit ist eine andere: Die amerikanische Notenbank hat während mehr als sechs Jahren die Zinsen auf Null festgezurrt und durch drei Phasen quantitativer Lockerung die Konjunktur unterstützt oder angeheizt. Diese lange Phase der Nullzinspolitik hat aber Nebeneffekte gehabt, die jetzt sichtbar werden. Sie hat eine Risiko-Kumulation begünstigt, die jetzt zum Platzen von Blasen führt.

Die Nullzinsen sollten eine absolute Ausnahme darstellen, sie sind gerechtfertigt in einer Situation wirtschaftlichen Ausnahmezustandes, drohenden Systemzusammenbruchs oder schwerer Depression. Lang anhaltende Nullzinsen sind in einem deregulierten Finanzsystem gefährlich, sie sorgen für eine Fehlallokation und für Nebeneffekte, die im Moment schwer erkennbar sind, aber nachher massiv und kumulativ ausfallen können. Während der Zeit viel zu tiefer Zinsen wird die Konstellation als angenehm empfunden, nachher endet die ganze Episode mit einem bösem Kater oder mehr.

Diese lange Periode der amerikanischen Nullzinsen seit 2009 hat global gesehen die präzedenzlose Kreditexpansion Chinas seit 2009 in geradezu beängstigender Weise perfekt ergänzt. Sie hat dafür gesorgt, dass sich eine gigantische Woge der Liquidität in die Schwellenländer, in Rohstoffe und in Aktien und in Kredite ergoss, die mit der Überkonjunktur in China zusammenhängen. In den USA haben die gefühlt ewigen Nullzinsen zu einer massiven Verschuldung in Dollar, und zu carry trades aller Art geführt.

Ein carry trade impliziert mindestens zwei Operationen: Der eine Teil der Operation besteht darin, sich hauptsächlich kurzfristig in einer Währung zu verschulden , in diesem Fall dem Dollar. Der andere Teil der Operation umfasst die Investition in andere Aktiven, möglicherweise in anderen Währungen. Ein solcher carry trade war die Verschuldung in Dollars, und die Anlage in höher verzinslichen Aktiven von Schwellenländern: Im Geldmarkt, in Staatsanleihen, in Rohstoffen. Ein anderer carry trade beinhaltete die Anlage in globalen Aktien und in Krediten, vor allem in high yield oder in junk bonds, die damit zusammen hängen. Auch komplexe strukturierte Produkte, die solche Operationen beinhalteten, kamen wieder in Schwung. Schließlich verschuldeten sich Unternehmen in breitem Ausmaß, um Kapazität in China oder in Rohstoffländern aufzubauen.

Die Nullzinsen haben Akteure mit Restriktionen in Bezug auf Mindesterträge, im Klartext die großen Institutionellen, bewogen oder gezwungen, sich auf die höchsten Erträge zu werfen. Versicherer und Pensionskassen erwarben Dividendentitel, Corporate und high-yield bonds, Anlagen in Schwellenländern, Immobilien. Banken vergaben hohe Kredite dorthin. Sie taten dies, weil ihre traditionellen Anlagen, etwa in Staatsanleihen, keine genügenden Erträge mehr abwarfen, um die Renditen auf den Verpflichtungen zu decken. Die Risikoprämien dieser Anlageklassen wurden gnadenlos zusammengedrückt, und realwirtschaftlich die Allokation in diese Bereiche weit überhöht.

Beispiele: Die globalen Multis expandierten wie verrückt in China, dem ewigen Zukunftsmarkt. Die Direktinvestitionen und die nachfolgende Kapazitätserweiterung nahmen gigantische Formen an. Unter dem Stichwort BRICS wurde auch bedenkenlos in Russland und in Brasilien investiert, sowie in allen möglichen Schwellenländern. Dass die Strukturen dort ein nachhaltiges Wachstum gar nicht erlauben, war kein Hindernis. Dass damit ein einziges global konzentriertes China-Risiko entstand, bekümmerte die Risiko-Manager auf verschiedensten Ebenen nicht. Ein enormer Hype entstand schließlich im amerikanischen Energiesektor um tight oil, das auch bei Erdölpreisen von über 100 Dollar per Barrel während Jahren im Branchendurchschnitt keinen Cashflow zu generieren imstande war.

Die Geldpolitik sowie die Finanzpolitik, die nie so restriktiv war wie in Europa, haben in den USA einen Konjunkturaufschwung hingebracht. Er ist deutlich schwächer als konjunkturelle Expansionsphasen in der Vergangenheit. Aber immerhin viel kräftiger als in Europa, präziser als in der Eurozone. Besser wäre es gewesen, die Steuern auf hohe und sehr hohe Einkommen zu erhöhen, etwa durch die Beendigung der von Präsident Bush durchgepaukten Steuerkürzungen, und damit ein groß angelegtes Infrastrukturprogramm zu finanzieren.

Die USA haben inzwischen eine Infrastruktur, die teilweise dem Standard von Schwellen- oder sogar Entwicklungsländern entspricht. Allein für Reparaturen gibt es praktisch unbegrenzten Bedarf. Auch die Qualität des öffentlichen Bildungswesens würde gezielte Investitionen erfordern. Die fehlende Unterstützung durch die Finanzpolitik hat die Geldpolitik in eine falsche Richtung gedrängt. Ein Nebeneffekt der jahrelang expansiven amerikanischen Geldpolitik war eine gewaltige Fehlallokation von Kapital in allen möglichen Sektoren. Die Fehlallokation der Ressourcen in die Schwellenländer hat dort zu Überkapazität und zu einer gefährlichen Auslandverschuldung vor allem der Unternehmen und typischerweise in US-Dollar geführt.

Allerdings darf die klassische Geldpolitik über die Zinssteuerung nicht allein für diese enorme Kreditexpansion und Blasenbildung verantwortlich gemacht werden. Die verfehlte Banken- und allgemeine Finanzmarkt-Regulierung tragen wesentlich dazu bei. Bei dieser spielen die Notenbanken ebenfalls eine beträchtliche Rolle. Und die Orientierung der Finanzpolitik in den USA (erst recht in Europa) zwang der Notenbank geradezu eine Rolle auf, welche sie langfristig gar nicht durchhalten kann.

Am Ursprung der verhängnisvollen Verkettung aber stand und steht die amerikanische Notenbank. Vor allem ein Mann, der während Jahren oder sogar Jahrzehnten an den Finanzmärkten wie Gott angesehen wurde: Alan Greenspan. Er war ganz wesentlich an der in Etappen erfolgten Manipulation der Inflationsmessung in den Vereinigten Staaten beteiligt, eigentlich deren spiritus rector. Aus den Preisindizes wurden in seiner Zeit für die Zwecke der Geldpolitik Energie- und Nahrungsmittelpreise konsequent herausgerechnet, und eine Kernrate in den Mittelpunkt gestellt und überhöht. Das ist zu rechtfertigen, wenn diese Komponenten nur für kurzfristige Volatilität sorgen. Es ist falsch, wenn die Energie- und Nahrungsmittelpreise jahrelang im Trend scharf ansteigen und eigentlich das Gros der Inflation ausmachen.

Nirgends sind die Rohstoffpreise so direkt von der Geldpolitik bestimmt wie in den USA. Sie sind dort geradezu Teil und Kernstück des geldpolitischen Transmissionsmechanismus. Verschiedene weitere Punkte runden das Bild einer gewissenlosen Manipulation der Inflationsstatistiken ab: Die Messung der Wohnkosten über imputierte Eigenmietwerte (engl. Owner’s Equivalent Rent, kurz OER) und die Art und Weise, wie dies umgesetzt wurde. Die kruden Annahmen über das Konsumentenverhalten bei relativen Preisänderungen (teures Steak wird einfach durch billige Hamburger ersetzt), die Berücksichtigung der Gesundheitskosten. Wäre die Inflation in den 2000er Jahren mit der gleichen Methodologie wie in den 1970er Jahren gemessen worden, wäre sie in der Mehrzahl der Jahre zweistellig ausgefallen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die effektive Teuerung so hoch lag. Sie war aber wesentlich höher als ausgewiesen. Und sie vermittelt ein viel zu positives Bild gegenüber der Periode der ersten beiden Erdölschocks.

Die Fed hielt deshalb die Zinsen in den 2000er Jahren zu niedrig, was zusammen mit der Bankenregulierung einen spektakulären Boom der Häuserpreise finanzierte. Greenspan malte 2003 das Schreckgespenst eines Deflationsrisikos an die Wand und senkte die Zinsen nochmals von 1.5% auf 1%, als die Konjunktur mit Macht zulegte und ein gewaltiger Refinanzierungsboom längst im Gange war. Ein Schuldenaufbau mit hoher Eigenmittelentnahme und eine gigantische Fehlallokation der Kreditvergabe in diesen Sektor waren die Folge seiner verfehlten Geldpolitik.

Nach der Finanzkrise von 2008, welche die US-Notenbank maßgeblich selber hervorgerufen hatte, musste die Geldpolitik die Hauptlast der Konjunkturbelebung tragen. Deshalb liegen die Zinsen bis heute bei Null. Jetzt platzt die nächste Blase, welche die US-Geldpolitik zumindest mit geprägt hat. Der Hauptgrund war ganz klar die Geld- und Kreditpolitik Chinas. Im Prinzip ist die inflationäre Wirkung der amerikanischen Geldpolitik über die Rohstoffpreise nun verfallen. Diesen Grund für einen Zinsschritt gibt es eigentlich nicht. Die amerikanische Notenbank hat diese Blase mit ihrer Kampagne bezüglich kommender Zinserhöhung subtil über einen stärkeren Dollar aufgestochen.

Doch die Situation zeigt, in was für eine Ecke zwölf Jahre fehlgeleiteter Geldpolitik die amerikanische Zentralbank gebracht haben. Mit zu expansiver Geldpolitik gehen nicht nur wie im Standard-Lehrbuch-Modell Nachfrage-, sondern auch Angebots- und sektorale Allokationseffekte einher. Von der inländischen Konjunktur her sind Nullzinsen eigentlich nicht mehr gerechtfertigt, und zwar schon seit längerem. Nullzinsen sind für eine konjunkturelle Extremsituation angezeigt.

Aber die Notenbank geht mit einer Zinserhöhung zum jetzigen Zeitpunkt erhebliche Risiken ein, weil aus dem Ausland bereits massive deflationäre Einflüsse kommen. Diese scheinen zumindest in der Rhetorik der Notenbank noch unterschätzt. Was die Fed wirklich machen wird, kann nicht so einfach vorhergesagt werden. Es scheint, dass die Notenbank dies unter anderem von den Arbeitsmarktzahlen vom nächsten Freitag abhängig macht. Dies ist eine Reihe, die durch notorische Revisionen gekennzeichnet ist.

In Europa ist die Kombination von Finanz- und Geldpolitik noch bedeutend ungünstiger als in den USA. Die wirklich nur leichte Konjunkturbelebung hat jegliche Anstrengung für geistige Kreativität in der Finanzpolitik erstickt. Darum lastet viel zu viel Druck auf der EZB. Diese scheint für Donnerstag sogar eine Beschleunigung des Ankaufsprogrammes für Staatsanleihen ins Auge zu fassen. Auch dies könnte ohne Kurswechsel längerfristig ein böses Ende nehmen.

Quelle: Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 03.09.2015

 

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