„Leser mundtot machen?“ – Spiegel, SZ und FAZ sperren bei Russland-Themen ihre Foren

Zeitungen© Flickr/ Yukiko Matsuoka

Zensieren Spiegel Online, FAZ und Süddeutsche ihre Leser? Zumindest beim Thema NATO-Russland kann dieser Eindruck entstehen, denn bei 90 Prozent der Artikel zu diesem Thema waren die Kommentarfunktionen abgeschaltet – in seinem bei Telepolis erschienenen Artikel „Kampf um die Leserforen“ legt der Journalist Paul Schreyer genau das offen.

Im Vorfeld des NATO-Gipfels kochen die Emotionen hoch, die Lesermeinung scheint aber bei drei der größten deutschen Medien unerwünscht zu sein. Paul Schreyer hat den Monat Juni analysiert und dabei festgestellt, dass im Schnitt nur etwa zehn Prozent der Artikel zum NATO-Russland-Konflikt, die bei Spiegel Online, der FAZ und der Süddeutschen Zeitung erschienen sind, zum Kommentieren freigeschaltet waren. Bei Spiegel Online waren es Artikel wie „Provokation über der Ostsee: Russische Maschine soll durch estnischen Luftraum geflogen sein“ (7. Juni) oder „Nato: Stoltenberg warnt vor russischen Expansionsplänen“ (16. Juni).Sputnik hat die Chefredakteure von SPON, FAZ und SZ um eine Stellungnahme gebeten, bisher gab es aber keine Reaktion. Mit dem Telepolis-Journalisten Paul Schreyer sprach Sputnik-Korrespondentin Ilona Pfeffer.

Herr Schreyer, auf Telepolis ist ein zweiteiliger Artikel von Ihnen erschienen, in dem Sie aufdecken, wie führende deutsche Medien wie Spiegel Online und FAZ bei strittigen Themen wie NATO und Russland die Kommentarfunktion für die Leser sperren. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen? Beobachten Sie dieses Phänomen schon länger?

Mir ist aufgefallen, dass bei dem Thema NATO-Russland bei sehr vielen Artikeln, sowohl bei Spiegel Online als auch bei der Online-Ausgabe der FAZ, keine Leserforen eingeschaltet waren. Daraufhin habe ich den Kontakt zu den entsprechenden Redaktionen gesucht, mit den Chefredakteuren gesprochen und nachgefragt, welche Erklärungen es dafür gibt. Es war schon auffällig. Ich habe eine Stichprobe für den Monat Juni gemacht und da kam heraus, dass 90 Prozent der Artikel keine Leserforen hatten.

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Welche Antwort haben Sie bekommen?

Der Chefredakteur von Spiegel Online sagte, das sei mehr oder weniger ein Zufall, es sei unbeabsichtigt gewesen. Interessant war auch, dass nach diesem Hinweis sich die Quote geändert hat. Ein paar Tage nach unserem Gespräch gab es bei 90 Prozent der Beiträge ein Leserforum.

Bei der FAZ wurde gesagt, da sei schon eine Absicht dahinter. Der Grund sei, dass es gerade bei diesem Thema sehr viele Pöbeleien im Forum gebe, sehr viele unangemessene Kommentare, und dass man deswegen gar nicht erst ein Forum schalten wolle.

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Bei der Süddeutschen Zeitung gab es wiederum ein anderes Argument. Da sagte mir der Chefredakteur, der Grund dafür, dass es zu diesem Thema keine Leserforen gäbe, sei, dass sich die Argumente so oft wiederholen würden und dass die Leser doch lieber Neues lesen würden als die immer gleichen Argumente.

Würden Sie sagen, dass es eine deutschlandweite Tendenz ist?

Man muss dazu sagen, das ist nicht überall so. Bei der „Zeit“ beispielsweise kann so gut wie jeder Artikel kommentiert werden. Auch zum Thema NATO-Russland ist das möglich. Das Forum wird moderiert, es wird auch einiges gelöscht und gekürzt. Zeit Online macht das zumindest kenntlich.

Allerdings habe ich schon eine Tendenz festgestellt, dadurch dass Spiegel Online und FAZ, also zwei der ganz großen Player auf dem Markt, beide zu 90 Prozent keine Foren angeboten haben. Aus meiner persönlichen Sicht war das kein Zufall mehr.

Geht es dabei vorrangig um die Russland-Berichterstattung?

Ich habe mir wirklich nur die Artikel zum Thema NATO-Russland angesehen und dabei ist für mich eine Tendenz sichtbar geworden.

Nun begründet ja z.B. Spiegel Online die Sperrung der Kommentarfunktion damit, dass es nicht genug Kapazitäten gibt, um die Kommentarspalten zu moderieren. Was sagen Sie dazu?

Der Kollege von Spiegel Online sagte, sie hätten schon ein großes Team dafür. Da wurde ja argumentiert, es sei alles Zufall und keine Absicht. Und nach dem Artikel wurde ja die Mehrzahl der Beiträge zum Kommentieren wieder freigeschaltet. Es ist also nicht ganz eindeutig.

Allerdings ist es nicht ganz klar, inwieweit diese Aussagen wirklich verlässlich sind und inwieweit das vorgeschobene Gründe für die Öffentlichkeit sind. Das Thema NATO-Russland ist im Moment sehr wichtig, es geht um Krieg und Frieden in Europa. Unheimlich viele Menschen haben dazu eine Meinung und wollen sich dazu äußern. Auf vielen Online-Portalen können sie das aber nicht mehr.

Das ist ein großes Problem, wenn es um ein Thema geht, dass viele Menschen bewegt und ohne Frage von großer politischer Bedeutung ist und es von den Lesern gar nicht diskutiert werden kann. Deswegen habe ich diesen Artikel geschrieben.

Es handelt sich bei diesen Artikeln doch offensichtlich um Themen, die sehr großes Interesse bei den Lesern wecken. Da müsste man sich doch über viele Kommentare freuen…

Das ist richtig. Und da muss man sich fragen: Was steckt dahinter? Man darf dabei aber nicht blauäugig sein. Es passiert natürlich vieles vor dem Hintergrund des Ukrainekonfliktes. Beim Ukrainekonflikt Anfang 2014 war es ja so, dass in den Leserforen ganz großer Widerstand gegen die Presseberichterstattung kam. Ich weiß aus eigener Beobachtung und Kollegen haben es auch bestätigt, dass 70 bis 90 Prozent der Leserkommentare bei den Artikeln zum Ukrainekonflikt gegen die eigentlichen Artikel argumentiert haben.

Das ist natürlich auch ein Kampf um Deutungshoheit. Es stellt sich die Frage: Wer entscheidet über die Deutung eines politischen Ereignisses? Entscheiden das die Journalisten, die die Artikel schreiben? Oder ist es eher so, dass wenn sich sehr viele Leser dazu äußern, sie auch eine Deutungsmacht haben? Diese Frage ist natürlich auch ein Machtkampf in der öffentlichen Meinungsbildung.

Halten Sie es für vereinbar mit der journalistischen Ethik, die Leserschaft mundtot zu machen?

Ich würde es nicht direkt so formulieren: mundtot. Aus meiner Sicht sollten die Medien ein Interesse daran haben, dass die Leserkommentare so frei wie möglich geäußert werden können. Unsere Demokratie lebt davon, dass es einen offenen Meinungsbildungsprozess gibt und dass Leute nicht davon ausgeschlossen werden.

De facto werden jetzt aber viele Leute ausgeschlossen und das kann nicht im Sinne der Medien sein. Die Medien tun sich dabei selbst keinen Gefallen, wenn sie ihren Auftrag ernst nehmen.

Ist das schon Zensur?

Meine Artikel sind ja bei Telepolis erschienen, wo es ein offenes Forum gibt. Es gab dort sehr viele Wortmeldungen von Lesern, die sagen, sie hätten schon persönlich die Erfahrung gemacht, dass ihre Kommentare bei FAZ oder Spiegel Online gelöscht worden seien, obwohl sie vernünftig formuliert waren. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass es in der Forenmoderation eine Art Zensur gibt.

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Die großen Zeitungen machen oft eine Vormoderation. Das heißt, Sie tippen als Leser einen Kommentar ein, dieser wird aber nicht gleich veröffentlicht, sondern erst gegengelesen und dann freigeschaltet.  Andere Zeitungen verzichten auf die Vormoderation und nur wenn Sachen absolut unangemessen sind, werden sie gelöscht.

Sind Sie denn weiterhin in Kontakt mit den Kollegen von Spiegel Online, FAZ und der Süddeutschen? Kriegen Sie Reaktionen auf Ihre Veröffentlichungen?

Ich habe ja wirklich das direkte Gespräch gesucht, das ist mir auch wichtig. Wir haben eine sehr aufgeheizte Debatte beim Thema Medien, viele sprechen von Lügenpresse. Das halte ich für keinen glücklichen Begriff. Ich halte es für wichtig, dass beide Seiten versuchen, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.

Ich habe Florian Harms, den Chefredakteur vom Spiegel, darüber informiert, dass der Artikel jetzt erschienen ist. Er hat mir auch ein Feedback dazu gegeben. Es wäre eine positive Folge, wenn man sich austauscht.

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Nun steht ja der Nato-Gipfel kurz bevor. Soll im Vorfeld gezielt Stimmung gemacht werden?

Das ist vorstellbar, der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Es ist offensichtlich, dass eine Konfrontation zwischen der NATO und Russland aufgebaut wird und natürlich findet das auch eine mediale Spiegelung. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass sich die Menschen dazu äußern können.

Nachdem Außenminister Steinmeier vor kurzem geäußert hat, Säbelrasseln gegenüber Russland sei nicht gut,  gab es bei Spiegel Online folgende Umfrage: Stimmen Sie der Äußerung von Steinmeier zu? An der Umfrage haben sehr viele Leute teilgenommen, ich glaube, es bewegte sich im mittleren fünfstelligen Bereich.  Etwa 70 Prozent der Leser haben sich hinter Steinmeier gestellt. In der deutschen Bevölkerung gibt es also eine Stimmung gegen eine Eskalation und für eine Annäherung. Diese Stimmung findet sich so aber kaum wieder in der Berichterstattung.

Interview: Ilona Pfeffer

Quelle: Sputnik vom 06.07.2016

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Ulrike
Ulrike
7 Jahre zuvor

Das ist doch schon die ganze Zeit so. Die erlauben uns nur zu doofen Artikeln die keinen interessieren zu schreiben.
Es würden wahrscheinlich zu viele Leute die Wahrheit schreiben und die darf man in diesem Land ja nicht mehr sagen.

Irgendwann kriegen alle Systemschreiberlinge die Quittung vom Volk serviert. Aber das wird heftig werden.