Flüchtlinge in Ostdeutschland: „Aus der Not eine Tugend machen“

Flüchtlinge aus dem Nahen Osten könnten ein Gewinn für Ostdeutschland sein und sogar dafür sorgen, dass dessen Rückstand zu den alten Bundesländern nicht größer wird, meint Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der Dresdner Niederlassung des ifo-Instituts.

„Wenn man es erreicht“, sagte er im Sputniknews-Interview mit Nikolaj Jolkin, „dass diese Menschen gut integriert werden, dass sie bei uns auch arbeiten dürfen. Viele dieser Flüchtlinge sind gut qualifiziert und könnten Fachkraftmängel und —lücken in Ostdeutschland schließen.“

Das große Problem sieht der Wissenschaftler darin, dass es dort derzeit eine sehr geringe Bereitschaft in der Bevölkerung gebe, diese Flüchtlinge aufzunehmen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. „Dies kann man nur dann erreichen, wenn es gelingt, diese fremdenfeindlichen Umtriebe, die es gerade in Sachsen derzeit gibt, in den Griff zu bekommen.“ Durch diese fremdenfeindlichen Ausschreitungen sei dem Ansehen Ostdeutschlands großer Schaden zugefügt worden. Ausländische Investoren würden jetzt einen Bogen um Ostdeutschland machen.„Die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer bleibt sowieso auch in den kommenden 25 Jahren hinter derjenigen der westdeutschen zurück. Wir haben in Ostdeutschland enorme strukturelle Probleme — sehr viele kleine Unternehmen, wenig Großunternehmen, wenig Forschung und Entwicklung. Aufgrund von Abwanderung und des Geburtendefizites Anfang der 90er Jahre ist die Bevölkerungsentwicklung dort stark rückläufig. Das führt dazu, dass wir in den nächsten Jahren weniger Arbeitskräfte zur Verfügung haben. Im Ergebnis muss man damit rechnen, dass dieser enorme Rückstand bei der Wirtschaftskraft noch auf lange Sicht bestehen bleibt.“

„Wir haben in Ostdeutschland einige wenige Wachstumspole“, erklärt Prof. Ragnitz, „einige Zentren, die wirklich gut laufen — Jena, Leipzig, Dresden u a.m. Aber wir haben sehr viele strukturschwache Regionen, wo die Bevölkerung und damit auch das Arbeitskräfte-Potenzial stark zurückgehen. Diese Regionen sind für die Unternehmensansiedlung nicht attraktiv, weil es dort auch an Kaufkraft und an entsprechenden infrastrukturellen Einrichtungen fehlt.“

So bleibe Ostdeutschland hinter dem Westen zurück, ist sich der Experte sicher. Altmark, Süd-Brandenburg und Ost-Vorpommern seien die großen Problemregionen in Ostdeutschland. „Seine Wirtschaftskraft 1990-91 lag ungefähr bei einem Drittel des westdeutschen Lohnes, dann ist sie sehr schnell auf ungefähr 60 Prozent bis zum Jahre 1995 gestiegen, und seitdem ist sie nur noch ganz langsam gestiegen. Jetzt haben wir ungefähr 66 Prozent. In 20 Jahren hat es keine echten Fortschritte mehr gegeben.“


Es gehe darum, fährt der Wissenschaftler fort, den Leuten nicht mehr die Illusion zu vermitteln, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht werden könne. Zugleich müsste dafür gesorgt werden, dass „wir die Wirtschaftskraft verbessern, dass Menschen ein gescheites Einkommen haben, und ausreichend Arbeitsplätze dafür zur Verfügung stehen.“

Nach der im Osten verbreiteten These gefragt, dass die westdeutschen Konzerne die ostdeutschen Betriebe bei der Wiedervereinigung bewusst bankrott gemacht hätten, räumte Joachim Ragnitz ein, es hätte gewisse westdeutsche Konzerne gegeben, die ostdeutsche Unternehmen aufgekauft hätten, um sich damit der Konkurrenz zu entledigen. „Es gab auch Fälle, wo westdeutsche Unternehmen Produktionsstätten in Ostdeutschland aufgekauft haben, die sie dann auch zu hochproduktiven Unternehmen gemacht haben. Das sind aber eher die Ausnahmen gewesen, weil anspruchsvollere Teile der Wirtschaftskette fehlen — Forschung, Entwicklung und die ganze Unternehmensverwaltung. Und das vertieft und verschärft die Unterschiede zwischen Ost und West nochmal zusätzlich.“

Quelle: Sputnik vom 10.09.2015

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