Wiedereinführung von Grenzkontrollen: Europa ist auf dem Weg zurück zu Nationalstaaten

 

Eine Kolumne von Wolfgang Münchau


Stau vor der deutsch-österreichischen Grenze: So schnell werden die Kontrollen nicht abgeschafft
REUTERS

Stau vor der deutsch-österreichischen Grenze: So schnell werden die Kontrollen nicht abgeschafft


Das demokratische Deutschland hat seine größten politischen Fehler gemacht, wenn die Einwanderung plötzlich anstieg. Nach dem Mauerfall, während der Balkankriege und jetzt mit der panischen Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Europa zerfällt.

Nach dem Mauerfall im November 1989 kamen bis März 1990 jeden Monat rund 50.000 Menschen aus dem Osten in den Westen Deutschlands. Die Regierung Kohl reagierte damals auf den Strom der Migranten mit dem Angebot eines Wechselkurses zwischen Ostmark und D-Mark von eins zu eins.

Damit handelte Kohl gegen jeden wirtschaftlichen Sachverstand, vor allem auch gegen den Rat des damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl. Die Entscheidung jagte die Kosten der Wiedervereinigung in die Höhe und, schlimmer noch, erschwerte die Anpassung des Ostens. Trotz Transferleistungen in Billionenhöhe verkamen weite Teile Mittel- und Ostdeutschlands zu wirtschaftlichen Wüstengebieten.

Im Dezember 1991 – kurz nach Ausbruch des Kriegs gegen Serbien – beschloss die Europäische Union (EU) auf Drängen Deutschlands und gegen den Widerstand von Großbritannien die Anerkennung von Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten. Auch hier spielte ein kurzfristiger Anstieg von Flüchtlingen nach Deutschland eine Rolle. Über die Konsequenzen dieser Entscheidung wird im Ausland anders geurteilt als in Deutschland. In den USA und Großbritannien gilt die deutsche Politik als wesentlicher Faktor für die Eskalation der Balkankriege in den Neunzigerjahren.

Deutschland denkt nicht an die Folgen

Auch die Aussetzung der Reisefreiheit im Schengener Abkommen steht unter dem Zeichen von Panik. Die Zahl der anreisenden Flüchtlinge überstieg am vergangenen Wochenende die zur Verfügung stehenden logistischen Kapazitäten – die der Deutschen Bahn und die der Stadt München. Die Politik kam unter Druck, die Züge zu stoppen und zog die Notbremse. Rechtlich darf sie das. Jede einzelne europäische Regel lässt sich aushebeln, sofern man nur bereit ist, offiziell eine Notsituation zu konstatieren.

Nur sollte man auch die Konsequenzen solcher Entscheidungen bedenken. Hier ein kleiner Vorschmack:

Wenn Deutschland die Einwanderung als rechtlich relevante Notsituation für die Grenzschließung deklariert, dann wird Italien die Einwanderung ebenfalls als rechtlich relevante Notsituation für den Bruch haushaltspolitischer Ziele betrachten. Die EU-Kommission hat schon in beiden Fällen signalisiert, dass das möglich ist. Deutschland hat mit seiner Entscheidung somit das Recht verwirkt, Haushaltsdisziplin in anderen Ländern einzufordern.

Die Italiener werden jetzt ihre Budgets überziehen, um ihre Grenzen zu schützen. Die Franzosen werden zusätzliches Geld für militärische Interventionen in Syrien ausgeben und zur Bekämpfung des Terrorismus in Frankreich selbst.

So schnell werden die Grenzkontrollen nicht wieder abgeschafft

Zweitens zerfällt der europäische Binnenmarkt. Als das Jahr 2015 begann, standen weder der Euro noch das Schengener Abkommen zur Disposition. Jetzt wissen wir, dass es zumindest theoretisch möglich ist, dass Länder eine „Auszeit“ von ihrer Mitgliedschaft im Euroraum beantragen können. Das war im Juli die Position von Wolfgang Schäuble in den Verhandlungen über das Hilfspaket für Griechenland. Es war auch Teil des offiziellen Vorschlags des Ministerrats. Auch wenn der Vorschlag keine hinreichende Unterstützung fand: Allein die Tatsache, dass er offiziell zur Debatte stand, heißt ja, dass eine Euro-Auszeit im Prinzip möglich ist.

Und jetzt bröckelt Schengen. So schnell werden die Grenzkontrollen nicht wieder abgeschafft. Denn die Flüchtlinge, die jetzt nicht kommen, sind schließlich noch da und sie werden sich andere Wege suchen.

Das Resultat wird sein, dass mit der Einführung von Grenzkontrollen durch Deutschland auch andere Länder nachziehen müssen – wie es gerade schon zu beobachten ist. Angesicht dieser Lage ist es nachvollziehbar, dass die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Deutschland fordert. Damit wäre nicht nur die Reisefreiheit ausgesetzt, sondern Schengen wahrscheinlich am Ende. Und damit die Freizügigkeit im Personenverkehr in der EU insgesamt.

Im Bankensektor hat die große Renationalisierung durch die Eurokrise schon stattgefunden. Für Waren ist der Binnenmarkt noch intakt. Aber die krisenbedingten Zentrifugalkräfte haben jetzt den Verkehr von Personen erreicht. Und da fragt man sich tatsächlich: Wenn man wirklich renationalisieren will, warum hat man dann noch überhaupt eine gemeinsame Währung? Die ganze Idee des Euro bestand doch darin, dass man die Wirtschaft so weit integriert, dass sie einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Geldpolitik standhält.

Der tiefe Grund für die Flüchtlingskrise besteht darin, dass Europa seine strategischen Interessen im Nahen Osten nicht wahrnehmen kann oder will. Europa ist ebenfalls nicht bereit, die Konsequenzen seiner Passivität zu tragen. Dass in einem solchen Umfeld nationalistisches und nationalstaatliches Denken an Boden gewinnt, ist vollkommen klar.

Quelle: Spiegel-online vom 14.09.2015

Dieser Beitrag wurde unter Aktuell, Geschichte, Kultur, Nachrichten, Politik, Soziales, StaSeVe Aktuell, Völkerrecht, Wirtschaft, Wissenschaft abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.
0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Markus huber
Markus huber
8 Jahre zuvor

So ein Quatsch! Wir haben jahrhundertelang gut gelebt mit Grenzkontrollen.
Sie bedeuten keine Einschränkung der Reisefreiheit.
Für Begrenzung des Chaos und Erhalt der Sicherheit zeig ich gern meinen Pass an der Grenze her.
Weit über die Hälfte der deutschen Bürger und zwar jeder politischen Richtung sind für die Wiedereinführung der Grenzkontrollen.
Die Nationalstaaten hätten durch EU nie ausgeschaltet werden dürfen. Dies ist ein Trick um unsere Demokratie auszuhebeln. Ebenso wie TTIP. Wehren wir uns, solange wir noch können.