Wechselt Deutschland die Seiten?

19.09.2015
Peter Koenig

»Die Türkei hat begierig zwei Millionen Flüchtlinge in ihr Land gelassen, um sie in Lagern aufzunehmen, die mit bis zu 6 Mrd. US-Dollar finanziert wurden – nicht aus Altruismus, sondern um die Flüchtlinge gemeinsam mit den USA, der NATO und der EU als geopolitische Waffe zu (be)nutzen«, schreibt Konjunktion.info.

Dieses Szenario klingt plausibel. Seit vielen Jahren praktiziert die Türkei eine verdächtige Politik der »Offenen Tür« gegenüber Flüchtlingen. Hunderttausende hat sie in gut finanzierten und organisierten Lagern untergebracht. Kürzlich war ich im türkischen Bodrum, der Transitstadt zum griechischen Kos, und man erklärte mir, die Regierung unter Staatspräsident Erdoğan habe die meisten Flüchtlingslager entlang der türkischen Grenze aufgelöst und stattdessen in Istanbul gewaltige neue Lager errichten lassen. Das diene dazu, den Flüchtlingsstrom besser kontrollieren zu können – gemeint ist die Weiterreise aus der Türkei.

Diese Lager sind Teil einer langfristigen Strategie. Sie zielt darauf ab, die Schaffung von sicheren Zufluchtsorten (»safe havens«) im Norden Syriens rechtfertigen zu können. Diese würden dann den Weg ebnen für einen Einmarsch der NATO und deren terroristischen Handlanger vom »Islamischen Staat« (IS). Dann wäre es auch nicht mehr lang hin bis zum Vormarsch auf Damaskus und dem lang geplanten »Regierungswechsel« ‒ dem Sturz des demokratisch gewählten Baschar Al-Assad.

Am 3. Juni 2014 wurde er mit nahezu 90 Prozent der Stimmen bei einem Wahlgang gewählt, der von internationalen Beobachtern als »frei, gerecht und offen« eingestuft wurde, obwohl Washington und seine EU-Vasallen die Wahlen als illegitim abtaten. Auch heute noch liegt die Zustimmung für Baschar Al-Assad oberhalb von 75 Prozent.

Entwickelt wurde dieser teuflische Plan bereits 2012 am neokonservativen Brookings Institute in den USA. In Memo Nummer 21 des Brookings Middle Eastern Saban Center werden die Möglichkeiten abgewogen, einen Regierungswechsel in Syrien herbeizuführen. Später kam noch ein Bericht mit dem Titel »Syrien zerlegen – Schritte zu einer regional zugeschnittenen Strategie für ein konföderiertes Land« hinzu. Dort wird beschrieben, wie

»moderate Elemente, sobald sie können, zuverlässige Zufluchtsorte innerhalb Syriens erschaffen. Unterstützt würden sie von amerikanischen, saudi-arabischen, türkischen, britischen, jordanischen und anderen arabischen Streitkräften, nicht nur aus der Luft, sondern auch am Boden durch die Anwesenheit von Sondereinheiten [Anm. d. Autoren: Gemeint ist der IS.]. Dass Syrien offenes Wüstenland ist, würde bei diesem Vorgehen von Vorteil sein und es ermöglichen, Pufferzonen zu erschaffen, die auf mögliche Anzeichen gegnerischer Angriffe hin überwacht werden würden, und zwar mithilfe einer Kombination aus Technologie, Patrouillen und anderen Methoden, bei deren Aufbau externe Sondereinheiten den örtlichen syrischen Kämpfern helfen könnten.«


Als Parallelmaßnahme oder Backup-Plan beschloss die unheilige Allianz aus Washington, NATO und Türkei, den Flüchtlingen Tür und Tor zu öffnen und den Exodus noch anzufachen, um in den sicheren Zufluchtsorten freie Hand zu haben und eine Flut an Flüchtlingen aufzustauen. Der Großteil von ihnen will nach Deutschland und wenn man im richtigen Moment dieser Flut ihren Lauf lässt, kann das für den gewünschten Druck oder das gewünschte Maß an Destabilisierung in Europa führen. Exakt das geschieht derzeit.

Innerhalb einer guten Woche hat Deutschland einige drastische und umstrittene Maßnahmen ergriffen. Zunächst sah es nach einer 180-Grad-Wende in der Flüchtlingspolitik und speziell im Umgang mit syrischen Flüchtlingen aus, als Deutschland seine Grenzen öffnete, um bis Jahresende 800 000 oder noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, der Großteil davon Syrer. Diese plötzliche Öffnung überraschte viele Deutsche, die für eine humanere Flüchtlingspolitik demonstrierten.

Nahezu zeitgleich führte Deutschland wieder Grenzkontrollen ein – und hebelte damit einen der zentralen Punkte des Schengener Abkommens aus, nämlich die Öffnung der Grenzen. Auslöser war die Sorge, dass zu viele Nicht-Syrer und Mitglieder des IS oder anderer dschihadistischer Zellen und Organisationen ins Land einsickern könnten. Es ist bekannt, dass sich diese von den USA trainierten und finanzierten Gruppen, die eine Destabilisierung anstreben, bereits in Europa eingenistet haben. Falls nötig, können sie Wahlen manipulieren oder Massendemonstrationen im Stile des Arabischen Frühlings oder wie später in der Ukraine organisieren.

Zu den berüchtigsten Organisationen, die Washington für derartige Destabilisierungsaktionen aufbieten kann, gehört die Stiftung National Endowment for Democracy (NED), die mit Hunderten Millionen Dollar vom US-Außenministerium unterstützt wird. Die Stiftung hat Dutzende Länder rund um den Globus destabilisiert oder es versucht, etwa in Venezuela, Ecuador, Brasilien, Argentinien, Sudan, Syrien, Libanon und im Iran. Und die Liste ist längst nicht zu Ende.

Zu leicht vergessen wir, wie grenzenlos böse das neoliberale Imperium in Washington ist, oft wollen wir es auch gar nicht glauben. Aber dieses Imperium agiert in einer perfekten Blase der Straflosigkeit und kann entsprechend völlig frei von Skrupeln nach der Weltherrschaft greifen. Und selbst das wird ihm nicht reichen, denn dieses Reich lebt von ständigen Kriegen und Konflikten. Die braucht es, um seine Wirtschaftsmaschinerie in Gang zu halten, hängt sie doch von der Kriegsindustrie ab.

Wir vergessen das oder glauben es nicht, denn die Mainstreammedien, die es kontrolliert (mit »es« ist in diesem Fall der Finanz- und Medienschwanz gemeint, der mit dem amerikanischen Kriegshund wedelt), unterziehen uns einer täglichen Gehirnwäsche aus Lügen und Halbwahrheiten. Man prügelt uns ein, wie gut das Imperium doch ist, und verunglimpft alle, die ein friedliches und harmonisches Miteinander der souveränen Nationen anstreben. Ein aktuelles Beispiel. Am 16. September meldete die New York Times:

»Durch die Entsendung russischer Waffen und russischen Militärgeräts nach Syrien spitzt sich ein Konflikt zu, der die Regierung Obama beschäftigt, seit Putin ins Präsidentenamt zurückgekehrt ist. Die Rede ist von der Wahl, sich mit Russland einzulassen und Putin zu treffen oder zu versuchen, Russland zu isolieren.«

Steht da ein einziges Wort darüber, wie die Regierung Obama und ihre Handlanger im Nahen Osten, also Saudi-Arabien, Katar und die Türkei, um nur einige zu nennen, den »Islamischen Staat« finanziert und bewaffnet haben? Dass sie Häuser, Städte, Kulturen und Existenzen vernichtet haben, dass sie Tausende Syrer, Iraker, Afghanen, Libyer, Jemeniten getötet haben und dass die Überlebenden aus ihrer Heimat fliehen mussten? Nein. Nicht ein Wort.

In dem Artikel heißt es weiter, dass viele »besorgt sind, dass ein Treffen mit Putin nur dem russischen Präsidenten in die Karten spielen und einen internationalen Schurken belohnen würde«. Und das, obwohl es nur einen einzigen Schurken gibt, der global endlos Schrecken verbreitet, und das ist Obama mit seinen Lakaien in Nord- und Südamerika (nur einige wenige), Europa (komplett) und Asien (wenige, aber Tendenz steigend). Und damit nicht genug, die New York Times hat noch zusätzliche Weisheiten im Angebot:

»Dass Russland die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad unterstützt, eine Regierung, die sich seit Jahren gegen Obamas Rücktrittsforderungen sperrt, zeigt die gegensätzlichen Herangehensweisen beim Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat

Für wen in aller Welt hält sich denn Obama, dass er einen demokratisch gewählten Führer einer souveränen Nation zum Rücktritt auffordert? Kommt es den Lesern der New York Times nie in den Sinn, derartige absolut gesetzeswidrige Aussagen zu hinterfragen? Das Syrien von Baschar Al-Assad muss seit Jahren blutige Gräueltaten Washingtons über sich ergehen lassen. Hätte Assad nicht ganz genauso das Recht, den Rücktritt des westlichen Hegemon Obama zu fordern? Wie würde wohl eine derartige Vermessenheit ankommen?

»Am 15. September hielt im tadschikischen Duschanbe die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ein Gipfeltreffen ab. Der thematische Schwerpunkt lag darauf, eine effektive Antwort zu finden auf die größten militärischen und politischen Herausforderungen. Dazu gehören auch die zunehmende Aktivität von Terroristen und extremistischen Gruppen sowie die Destabilisierung entlang der Grenzen von OVKS-Ländern. Der Organisation gehören Russland, Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan an.«

In seiner Rede vor dem OVKS-Rat sagte Putin:

»Die Lage dort [in der auch Afghanistan, den Irak und Syrien umfassenden Region] ist sehr ernst. Der sogenannte Islamische Staat kontrolliert beträchtliche Gebiete im Irak und Syrien. Die Terroristen haben bereits öffentlich erklärt, dass sie Mekka, Medina und Jerusalem ins Visier genommen haben. Sie planen, ihre Aktivitäten auf Europa, Russland, Zentral- und Südostasien auszudehnen.

Wir sind deswegen besorgt, denn die Extremisten, die sich beim IS ideologisch und militärisch ausbilden lassen, stammen aus vielen Ländern der Welt, darunter leider auch aus Europa, Russland und vielen ehemaligen Sowjetrepubliken. Und natürlich bereitet uns der Gedanke Sorge, dass diese Menschen in unser Gebiet zurückkehren könnten.

Der gesunde Menschenverstand und das Verantwortungsgefühl für die globale und regionale Sicherheit erfordern es, dass sich die Völkergemeinschaft geschlossen dieser Bedrohung stellt. Wir müssen geopolitische Differenzen ausblenden, das Messen mit zweierlei Maß überwinden und aufhören, einzelne terroristische Verbindungen direkt oder indirekt zum Erreichen der eigenen opportunistischen Ziele zu nutzen, etwa um Veränderungen in unerwünschten Regierungen und Regimen herbeizuführen.

Wie Sie wissen, hat Russland vorgeschlagen, rasch eine breite Koalition zu bilden, die den Extremisten entgegentritt. Dazu gehören muss jeder, der bereit ist, etwas zum Kampf gegen den Terrorismus beizutragen oder dies bereits tut, so wie es die Streitkräfte des Iraks und Syriens bereits leisten. Wir unterstützen die syrische Regierung … und ich möchte das sagen … in ihrem Kampf gegen die terroristische Aggression. Wir liefern die nötige militärtechnologische Unterstützung und werden das auch in Zukunft tun. Ich rufe andere Nationen auf, sich dem anzuschließen.«

Aber noch einmal zurück zu Deutschlands mutigem und kontroversem Vorgehen. Am 12. September 2015 meldeten die Deutschen Wirtschafts Nachrichten:

»Deutschland ist überraschend aus der Anti-Putin-Allianz der USA ausgebrochen: Deutschland begrüßt nun offiziell die Bereitschaft Moskaus, sich in Syrien zu engagieren, und startet gemeinsam mit den Russen und den Franzosen eine Initiative zur Beendigung des Krieges. Damit soll der Strom der Flüchtlinge gestoppt werden. Deutschland hat tausende Soldaten in Rufbereitschaft versetzt.«


Deutschland hört inzwischen möglicherweise auf Wladimir Putins Aufruf zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den »Islamischen Staat« und dessen angeschlossene Terrororganisationen. Angesichts der neuen Destabilisierungswaffe, die Washington, NATO und Türkei erschaffen haben – die »Flüchtlings-Rakete« ‒ und der sich Deutschland nun ausgesetzt sieht, ist es vielleicht nicht überraschend, dass Deutschland erneut gegen sein Grundgesetz verstößt und einen Krieg vom eigenen Territorium vorbereitet.

Dann würde Deutschland nicht an der Seite Washingtons, sondern an der Seite Russlands gegen die vom Westen erschaffenen Terroristen des »Islamischen Staates« kämpfen. Vielleicht hat Deutschland endlich die tödliche und verlogene Scheinheiligkeit Washingtons durchschaut – auf der einen Seite wird das Monster finanziert und unterstützt, auf der anderen Seite wird es bekämpft. Die »sicheren Zufluchtsorte« werden für Pro-forma-Angriffe auf den IS genutzt, aber in Wirklichkeit dienen sie dazu, auf Damaskus vorzurücken. Derartige Doppelstrategien sind natürlich nichts Neues. Der selbsternannte Herr des Universums geht diesen Weg bereits seit mindestens 100 Jahren, darunter in beiden Weltkriegen.

Der französische Präsident Hollande hat bereits erklärt, er sei bereit, Kampfjets für den Kampf gegen den Terror des »Islamischen Staates« abzustellen. Wenn er sich Deutschland an der Seite Russlands anschließen würde und noch weitere Europäer dem Vorbild folgten, könnte dies eine fundamentale Verschiebung im geopolitischen Gleichgewicht bedeuten. Das belegen auch die Annäherung der Saudis an Russland sowie das sogenannte »Atomabkommen« mit dem Iran.

Die Entscheidung der P5+1-Gruppe (China, Frankreich, Russland, Großbritannien, USA plus Deutschland) war bahnbrechend und gilt gemeinhin und ungeachtet der Proteste von Netanjahu und den möglichen Einwänden des US-Kongresses als neue Chance für den Nahen Osten. Schon jetzt wirkt sich das Abkommen aus. Die »Sanktionen« der USA mögen noch gelten, aber aus aller Welt strömen bereits Diplomaten und Geschäftsleute in den Iran.

Ramstein in Deutschland ist noch immer der größte Luftwaffenstützpunkt der USA in Europa. Von dort aus werden die meisten amerikanischen Drohnenprogramme koordiniert und durchgeführt. Zehntausende Menschen werden von einem amerikanischen Stützpunkt in Deutschland aus getötet – dabei verbietet das deutsche Grundgesetz, dass vom eigenen Boden Kriegshandlungen ausgehen. Für Ende September ist eine große Demonstration gegen Ramstein geplant. In Deutschland ist die Stimmung so weit, dass man die Tötungsmaschinen des neokonservativen Hegemon in Washington nicht länger dulden will.

Mit Deutschland an der Seite Russlands könnte die Regierung Assad tatsächlich verteidigt und bewahrt werden. Gemeinsam mit dem Iran ist Syrien der stabilisierende Faktor im Nahen Osten. Gleichzeitig könnte es für Europa eine Abkehr von Feindseligkeit und wirtschaftlicher Isolation Russlands signalisieren. Europa könnte sich vom sinkenden Schiff der USA distanzieren, dessen monetäres System mit Dollar und Euro ohne Edelmetalldeckung zum Untergang verurteilt ist.

Stattdessen könnte sich auf diese Weise die Tür öffnen für neue Beziehungen zum Osten – zur neuen Seidenstraße, die Chinas Präsident Xi Jinping im März 2014 Kanzlerin Merkel anbot. Ist die Schwelle dieser neuen Tür überschritten, könnte eine Flut neuer wirtschaftlicher und finanzpolitischer Möglichkeiten den Dollar-Euro-Würgegriff brechen.

Quelle: Kopp-online vom 19.09.2015

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