Der Hilferuf der Bereitschaftspolizei

24.11.2015
Stefan Schubert

Am Wochenende verbreitete sich in den sozialen Netzwerken der Brandbrief eines jungen Polizisten einer Einsatzhundertschaft aus Baden-Württemberg. Zuerst erschien er auf der Facebook-Seite »Respekt und Anerkennung für unsere Einsatzkräfte« und wurde von dort auf weiteren Seiten, wie »SEK-Einsatz«, übernommen. Der Brief belegt den katastrophalen Zustand der Polizei, besonders der Ausrüstung und vor allem der politischen Führung, die ihre Beamten gnadenlos verheizt und ansonsten im Stich lässt.



Im grün-roten Ländle darf beispielsweise, wenn Schießtraining überhaupt noch stattfindet, nicht auf »Menschenmotive geschossen werden … das ist »zu martialisch«. Und dies in Zeiten eines nicht enden wollenden islamistischen Terrors. Aber bilden Sie sich selbst eine Meinung und lesen Sie nachfolgend den Brief in der ungekürzten Fassung.

»Paris … es ist spät, bereits nach Mitternacht, auf den Straßen dämmern die Straßenlaternen, Cafés und Bars hellen das Bild der düsteren Straßen auf. Durch die Nacht huscht gelegentlich ein Streifenwagen mit Blaulicht.

In der Konzerthalle Bataclan spielt die amerikanische Band ›Eagles of Death Metal‹. Das Security Personal beobachtet die Gäste, wagt gelegentlich einen interessierten Blick auf die Bühne.

Ein paar Straßen weiter findet im ›Stade de France‹ ein Testspiel für die EM 2016 statt. Frankreichs Nationalteam spielt gegen Deutschlands Nationalteam. Vor dem Fußballstadion stehen Polizeibeamte. Das Kräfteaufgebot ist normal … Routine. Beamte in Körperschutzausrüstungen stehen stets bereit für den Fall, dass gewaltbereite Fangruppierungen die Auseinandersetzung suchen.

Eine normale Nacht in Frankreich. Selbige könnte auch in Deutschland so stattfinden …

Plötzlich ist im ›Stade de France‹ ein Knall zu hören. Vielleicht war es ein Feuerwerkskörper? Pyrotechnik ist bekanntlich normal beim Fußball … Routine. Noch ahnt niemand von den Szenen, die sich in diesen Sekunden einige Meter weiter abspielen.

Plötzlich … noch ein Knall. Die Anspannung steigt … diesmal knallte es noch lauter, noch näher, … keine Rauchschwaden sind in Sicht, kein bengalisches Feuer. Irgendetwas stimmt nicht. Dann … Schüsse … Schreie … Blut. Für die Pariser Polizei weicht nun Routine rascher Improvisation.

Was in Frankreich jüngst passierte fällt uns allen schwer in Worte zu fassen, es macht uns betroffen, wütend und es macht uns Angst.

Seit Januar sind die französischen Sicherheitsbehörden enorm angespannt. Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo im Januar kam unerwartet, die französische Polizei reagierte im Rahmen ihrer Möglichkeiten … stoppte schließlich die Terroristen. Am Ende des Tages … Redakteure, Passanten, Polizisten, … tot. Familienmitglieder, Freunde, Kollegen, … tot.

Eine Katastrophe … und vor wenigen Tagen wieder … Konzertbesucher, Passanten, Polizisten, … tot. Familienmitglieder, Freunde, Kollegen … tot.

Doch für was das Ganze? Sie sind gestorben, wurden ermordet, gar hingerichtet für das unbegreiflich unmenschliche Weltbild fehlgeleiteter und von Hass und Verblendung getriebener Menschen. Menschen, die in dem Moment selbst starben, als sie sich für dieses Weltbild entschieden haben … doch zu unserem Bedauern entschieden sie sich nicht alleine zu sterben …

Eine solche Welle von Terroranschlägen in derartigem Ausmaß, mehreren Tätern und Schauplätzen, ist eine Mammutaufgabe für die Polizei. Frankreich verstärkte nach Charlie Hebdo seine Polizei, aktivierte das Militär und dennoch wird uns in diesen Tagen schmerzhaft aufgezeigt, wie schnell ein solch professionell agierendes Sicherheitskonzept wieder ins Wanken geraten kann.

In Deutschland schauen wir voller Schrecken zu unseren Nachbarn … wir sind zutiefst betroffen, trauern und haben Angst … Angst, dass wir bald Opfer ähnlicher Unmenschlichkeit werden. Familienmitglieder, Freunde, Kollegen verlieren …

Doch was setzen wir entgegen? Es klingt tragisch, doch Frankreich war, wenn man es so will, vorbereitet. Die französische Polizei zog Lehren aus dem Charlie Hebdo Anschlag, konnte dieses Mal noch schneller einschreiten … und dennoch … jeder kennt die Bilder.

Was tut nun Deutschland? Fühlt sich unsere Polizei auf eine solche Lage vorbereitet? Sind wir dem gewappnet, was da kommen könnte?

Immer wieder wird die mangelnde Ausrüstung, die fehlende Fortbildung und die Überlastung unserer Polizei thematisiert. Es unterhalten sich Gewerkschafter, Personalräte, mehrfach Studierte … doch wer fragt den kleinen Beamten auf der Straße? Wer interessiert sich für die realen Umstände, mit denen der kleine Beamte jeden Tag zu kämpfen hat? Und wer akzeptiert überhaupt die Meinung eines so jungen und als unerfahren abgestempelten Menschen, der sich im Einsatz nicht mehr sicher fühlt?

Es fällt allzu schwer im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen in Frankreich die mangelnde Rückendeckung unserer Polizei anzusprechen … ja ansprechen zu müssen!

Wäre selbige Tragödie in Deutschland geschehen, dann wären wohl die ersten Polizisten vor Ort jene Beamten der Bereitschaftspolizei gewesen, die Beamten, die eigentlich das Fußballspiel hätten absichern sollen. Doch was hätten diese Beamten entgegenzusetzen gehabt?

Macht Eure Augen auf! Unsere Bereitschaftspolizei ist gnadenlos überlastet! Es ist das Leben des kleinen Beamten, das auf dem Spiel steht! Das Leben des Beamten und das Vertrauen der Menschen, welches jeden Tag auf seinen schmalen Schultern lastet! ~

Baden Württemberg:
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Die Bereitschaftspolizei bedient aktuell Einsätze, für die nicht einmal eine Revierstreife nötig wäre. In manchen S21-, 5. Liga Fußball- oder Eishockeyeinsätzen fragt man vergebens nach dem Sinn für selbigen und dennoch werden die Wochenenden der jungen Beamten ersatzlos ›verbrannt‹.

Einheiten befinden sich zum Teil bis zu fünf Stunden vor Beginn des eigentlichen Einsatzgeschehens im Einsatzraum. Die Beamten sitzen da, in unbequemen Körperschutzausstattungen, auf engem Raum, und können nichts tun, außer ihren Frust vor Vorgesetzten zu verbergen.

Einsatzstunden von 10–12 Stunden sind mittlerweile die Regel. Einsätze bis zu 16 Stunden sind schon lange keine Ausnahme mehr. Bereits im Vorhinein werden Einsatzzeiten ohne Rücksicht auf Privatleben und Gesundheit der Beamten auf Überlänge, bis zu 18 Stunden, angesetzt.

Anstatt Beamten Übernachtungsmöglichkeiten an fernen Einsatzorten zu gewähren, sind sie gezwungen nach 10‒12 Stunden noch übermüdet und wahrnehmungsgetrübt zurück zur Dienststelle zu fahren. Anstatt mehr Geld für eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, geht man lieber eine derartige Verantwortungslosigkeit ein. Lieber wechselt man auf der Rückfahrt jede halbe Stunde den übermüdeten Fahrer. Für mögliche Ausfallerscheinungen oder Unfälle muss am Ende der kleine Beamte geradestehen.

Die angestrebte Ruhezeit von 11 Stunden kann nicht mehr eingehalten werden. Man hat nicht genug Kräfte, um alle Einsätze zu bedienen. Das Privatleben und die Gesundheit des Einzelnen bleiben auf der Strecke.

Dienstpläne ändern sich von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde. Eine, einem Menschen angemessene Lebensgestaltung ist aufgrund der vielen Änderungen nicht mehr möglich. Selbst für immer gleiche Routineeinsätze oder -tätigkeiten werden Beamte wie Nummern auf einem Rechenschieber hin und her geschoben. Es gibt keinen Feierabend, ständig wird man per Telefon in Ungewissheit belassen.

Überstunden im Bereich von 50–200 Stunden sind mittlerweile die Regel. Ein Abbau ist kaum möglich und der Regelsatz für eine Ausbezahlung der Mehrarbeit entspricht nicht einmal dem gesetzlichen Mindestlohn. Ein Armutszeugnis. Auch die nicht vorhandene Erschwerniszulage und die wahnwitzigen Zuschläge für ungünstige Arbeitszeiten ab gewissen Uhrzeiten, an Wochenenden und Feiertagen grenzen eher an eine Beleidigung als an eine angemessene Entlohnung.

Es finden so gut wie keine Fortbildungen mehr statt. Das Ganze führt zu einer spürbar wachsenden Inkompetenz und Hilflosigkeit der einzelnen Beamten. Beamte, die nach der Ausbildung kaum Praxiserfahrung haben, müssen mittlerweile Auszubildende einlernen. In den Einheiten werden Neuankömmlinge von anderen Beamten im laufenden Einsatz in Tätigkeiten eingelernt, für die sie selbst keine offizielle Schulung haben.

Nicht einmal mehr die Möglichkeit dienstlich individuell Sport zu betreiben wird den Beamten eingeräumt. Ein Sportübungsleiter, von denen es zu wenige gibt, muss ähnlich einem Babysitter auf die erwachsenen Beamten aufpassen.

Die Grundlehrgänge der Beamten der Bereitschaftspolizei werden unterbrochen, um die noch nicht ›eingelernten‹ Beamten auf Einsätze schicken zu können, da man anders nicht genügend Kräfte hätte. Gefühlt werden diese Grundlehrgänge immer kürzer und kürzer.

Die Beamten schaffen es, wenn alles gut läuft, gerade noch ihre Pflichtfortbildungen zu absolvieren, bei manchen Kollegen liegt das letzte Schießtraining so lange zurück, dass sie eigentlich längst ihre Schusswaffe abgeben müssten … auch Führungskräfte.

Es gibt nicht ausreichend fortgebildete Einsatztrainer, um allen Einheiten ein regelmäßiges, flächendeckendes und an realistische Umstände angepasstes Training zu gewährleisten. Szenario-Übungen für Terroranschläge, Geiselnahmen oder Amokläufe gibt es nicht.

Schießstätten weisen erhebliche Mängel auf, sind nur bedingt betreibbar, andere sind komplett geschlossen. Beim Schießtraining selbst, wenn es denn je stattfindet, darf nicht auf Menschenmotive geschossen werden … das ist ›zu martialisch‹.

Für das Üben von Polizeitaktiken oder das Nachbereiten und Trainieren von Erlebtem fehlt die Zeit, das Geld & das Personal … und gefühlt … der Einsatz der eigenen Führungskräfte für die kleinen Beamten. Gerechnet auf 10 Beamte hat nur knapp einer jemals mit einem G3 geschossen.

Nicht alle Beamte verfügen über ein persönliches Funkgerät und sind im Einsatz auf die Zurufe ihrer Kollegen angewiesen … was, wenn dieser Kollege von der Einheit getrennt wird, nicht auf Lageänderungen reagieren kann, wenn ein Notruf nicht gesendet oder Verstärkung erst viel zu spät angefordert werden kann?

Die Haltbarkeitsempfehlungen für die Tumultschutzausstattungen sind längst abgelaufen und werden mit Edding und einem neuen Datum überschrieben. Wenn man sie zum Waschen aus ihren Hüllen nimmt, fallen sie auseinander. Beamte sind enorm bewegungseingeschränkt, der unhandliche und schwere weiße Helm gibt eine optimale Zielscheibe ab.

Das dienstlich gelieferte Holster ist nicht auf den Körperschutz angepasst, es öffnet sich ständig von selbst und drückt im Sitzen auf die Hüfte. Wenn man es unter der Jacke trägt, kann man seine Waffe im Ernstfall nicht schnell genug ziehen.

Einheiten haben kein eigenes Waffenarsenal und müssten sich in einem großen Alarmierungsfall mit umständlichen Freischaltesystemen um eine beschränkte Anzahl von z.T. verrosteten und ungepflegten Maschinenpistolen streiten, deren Tragesysteme stets verstellt sind … Niemand fühlt sich für eine Wartung oder Qualitätserhaltung zuständig.

Die Maschinenpistole wird aus unbegründeter Angst vor Verantwortung nicht einmal in jeden Einsatz mitgeführt. Das gleicht einem Himmelfahrtskommando. In den (zumindest auf dem Papier) besonders fortgebildeten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten gibt es wenigstens höherwertige Schutzwesten … aber keine entsprechenden Helme. Es fehlt vorne und hinten … und am meisten – am kleinen Beamten.

Was hier aufgelistet werden muss wirkt erschreckend. Die Wahrheit ist nicht immer rosig. Wer das alles liest, dem mag wohl nicht unberechtigt übel geworden sein …

~

Eins jedoch soll gesagt sein! Eins wird man der Polizei nie nehmen ‒ den überdurchschnittlich hohen Anteil an Idealisten. Jeden Tag diskutieren die Beamten im Einsatz über die internen Missstände. Nicht selten werden Kollegen emotional, sentimental, verzweifeln schier … Die übermüdeten Beamten vernachlässigen ihr Privatleben und sind gefrustet, schimpfen über den Dienstherren und lassen sich zu Aussagen hinreißen wie: ›Ich kann und will nicht mehr, ich mache das nicht mehr mit! Wenn ich das nächste Mal zur Alarmierung angerufen werde, gehe ich einfach nicht an mein Telefon.‹

Doch am Ende … geht jeder an sein Telefon. Jeder fährt am Wochenende, an seinem Geburtstag oder am Feiertag zur Arbeit, steht bereit und harrt der Dinge, die da kommen.

Irgendwann jedoch … und das wird schon bald der Fall sein, wird der erste Beamte nicht mehr stehen können. Der erste Beamte wird fallen. Er wird nicht mehr fähig sein zu 100 Prozent seinen Dienst zu leisten. Entweder wird er selbst zusammenbrechen oder im furchtbarsten Fall … einem Szenario, ähnlich dem in Frankreich … sein Leben lassen.

Und warum?

Entweder, weil das verwendete Kaliber seines Gegenübers seine Schutzweste der Klasse 1 wie Butter durchschlägt … Weil er keine oder nicht ausreichend Maschinenpistolen in den Einsatz mitführen konnte, um wenigstens im Ansatz angemessene Gegenwehr zu leisten …

Weil er kein Funkgerät besaß, um sich mit seinen Kollegen zu koordinieren oder um Hilfe zu rufen … Oder weil er schlichtweg seine eigene Waffe nicht beherrschte, weil er keine erlernten Selbstverteidigungs- oder Erste-Hilfe-Kenntnisse anwenden konnte, … weil er überlastet oder übermüdet war.

Niemand will den Kollegen, der zuvor noch mit ihm auf der Stube oder im Fahrzeug saß, zu Grabe tragen müssen. Niemand will den Leichnam seines Kollegen vom Strick lösen oder ihn mit einer Patrone weniger und ohne Puls auf dem Areal vorfinden.

Einige Kollegen haben längst ihre persönliche Belastungsgrenze erreicht … aber danach fragt niemand … In der Bevölkerung reden immer alle davon, ob die Polizei nicht überfordert ist … ob sie der Sicherheitslage im Land bald nicht mehr Herr wird … Wir sind es schon lange nicht mehr. Eine verzweifelte Bitte an Politik & Polizeiführung ‒ reagieren Sie endlich!«
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Quelle: Kopp-online vom 24.11.2015

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Helmuth
Helmuth
8 Jahre zuvor

Ich weiss nicht welche Polizei hier dokumentiert wird, auf jeden Fall nicht die Thüringer! Es stimmt dass die Arbeit nicht ohne ist und viel verlangt aber solche Grusselmärchen sind weit weg von dem real existierenden Polizeialtag ! Was genau an Waffen durch den Beamten mitgeführt werden ist unreal, es wird in Thüringen klar festgelegt und auch durchgeführt, ebenfalls die Übungen mit den Waffen. Bleibt bei der Wahrheit, die siht anders aus.