Gottgeschenktes Recht: 70 Jahre „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“

06. August 2020
Gottgeschenktes Recht: 70 Jahre „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“
GESCHICHTE

Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ bekannte sich unter Verzicht auf Rache und Vergeltung zum unbedingten Heimatrecht aller Menschen. Vor 70 Jahren wurde sie unterzeichnet und verkündet. Nach dem Jahrhundertverbrechen der Vertreibung von Millionen Deutschen verhängten die Alliierten ein sogenanntes Koalitionsverbot für die heimatlos Gemachten. Die Besatzungs­mächte trieb die Sorge um, die verzweifelten Ostflüchtlinge könnten ein dauerhafter Unruhefaktor der Nach­kriegsordnung werden. Ihre soziale und politische Abschottung sollte unbedingt vermieden werden, damit ja keine mächtige Bewegung zur Rückkehr in die Heimat aufkam. Statt dessen sollte die Assimilierung in Westdeutschland forciert werden. Das Koalitionsverbot untersagte die Gründung eigener Par­teien, um eine organisierte Stimme für ostdeutsche Interessen gar nicht erst laut werden zu lassen. Trotz einer ge­wissen Aufweichung des Organisations­verbotes im Zuge des beginnenden Kal­ten Krieges durfte an der ersten Bun­destagswahl am 14. August 1949 keine Vertriebenenpartei teilnehmen.

Am 9. April 1949 hatte sich mit dem „Zentralverband vertriebener Deut­scher“ (ZvD) ein erster überregionaler Zusammenschluß der Vertriebenen in den westlichen Besatzungszonen kon­stituieren können. In Konkurrenz zum eher sozialpolitisch ausgerichteten ZvD entstanden zahlreiche Heimatgruppen, in denen sich Menschen nach früheren Herkunftsregionen organisierten und  die stärker für heimatpolitische Ziele eintraten. 1949 fusionierten die daraus entstandenen Landsmannschaften zu den „Vereinigten Ostdeutschen Lands­mannschaften“ (VOL).

Diese Gemeinschaftsbildung schuf ein heimatliches Zusammengehörig­keitsgefühl und linderte etwas die große seelische Not der Vertriebenen. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung stellten sie 1950 in der Bundesrepublik Deutschland 16,5 Prozent der Gesamt­bevölkerung. Durch die Massenflucht aus der DDR stieg ihr Anteil bis 1961 sogar auf 21,5 Prozent. Damit war jeder fünfte Bundesbürger ein deutscher Flüchtling. Obgleich sie ein demogra­phischer Machtfaktor waren, zeigte sich mit der Charta der deutschen Heimat­vertriebenen schon vor 70 Jahren, daß diese politisch zurückhaltend und ver­söhnungsbereit waren.

Mit der von ihnen am 5. August 1950 unterzeichneten Charta erteilten 30 Re­präsentanten der damals bestehenden Landsmannschaften und Vertriebenen­organisationen jedem Vergeltungsgedanken eine Absage und bekundeten – bei Betonung des Heimatrechtes als Menschenrecht – den Willen zu einem geeinten Europa. Der Monat August war bewußt gewählt, um an die Unter­zeichnung des Potsdamer Abkommens im August 1945 zu erinnern, in dem die Siegermächte ein Drittel des Staatsgebietes des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 abgetrennt und un­ter polnische sowie sowjetische Verwal­tung gestellt hatten.

Das in seiner historischen Bedeu­tung oft unterschätzte Dokument be­ginnt mit den Worten: „Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländi­schen Kulturkreis, im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Er­kenntnis der gemeinsamen Aufgabe al­ler europäischen Völker haben die er­wählten Vertreter von Millionen Hei­matvertriebenen nach reiflicher Über­legung und nach Prüfung ihres Gewis­sens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeifüh­rung eines freien und geeinten Europas ansehen.“

Die Unterzeichner erklärten den Verzicht auf „Rache und Vergel­tung“, die Unterstützung von allem, „das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist“, sowie das unermüdliche Wirken „am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“.

Von zeitloser Gültigkeit sind die Worte zum Heimatrecht: „Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hin­eingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und ver­wirklicht wird.“ Solange dieses Recht nicht verwirklicht sei, wolle man bei einer gerechten Verteilung der Kriegslasten als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger arbeiten und wirken.

Bei der Bekanntgabe der Erklärung im Bad Cannstatter Kurhaus fehlte trotz Ankündigung Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), der sich als Festred­ner von Vizekanzler Franz Blücher vertreten ließ. Adenauer sei wegen eines Kuraufenthaltes in der Schweiz verhin­dert, sagte bei seiner Begrüßung der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vor­sitzende des Zentralverbandes vertrie­bener Deutscher, Linus Kather. Der in Ostpreußen geborene Jurist war der er­ste Unterzeichner der Charta.

Zumindest in Wahlkampfzeiten be­mühte sich Adenauer um die Neuankömmlinge, obwohl der Rheinländer seinen Landsleuten östlich der Elbe im­mer distanziert gegenübergestanden hatte. In einer Rundfunkansprache vor der Bundestagswahl 1949 warb er den­noch massiv um die Stimmen der Hei­matvertriebenen: „Deutschland kann natürlich das Vertriebenenproblem nicht aus eigener Kraft lösen. Es handelt sich hier um eine internationale Aufgabe, die allein in der Rückkehr der Ver­triebenen in ihre Heimat, in der Beseiti­gung auch der Oder-Neiße-Linie ihre letzte Lösung finden kann. Nie werden wir unsere Ansprüche auf unser Land östlich der Oder und Neiße aufgeben.“ Es werde Aufgabe von Parlament und Regierung sein, mit „Festigkeit unser Recht auf den deutschen Osten“ geltend zu machen.

Am 6. August 1950 und damit einen Tag nach ihrer Unterzeichnung wurde die Charta bei einer Großkundgebung mit bis zu 150.000 Teilnehmern vor dem Stuttgarter Schloß verkündet. Für einen Reporter der Stuttgarter Zeitung war sofort klar, mit was für leidgeprüf­ten Menschen er es zu tun hatte: „Auf den ersten Blick ist es erkennbar: Hier steht der fünfte Stand! Das sind Men­schen, denen man ihr schweres Los nicht nur an der dürftigen und ver­schlissenen Kleidung ansieht. Ihr Schicksal, die grauenhaften Erlebnisse ihrer Flucht vor fünf Jahren, haben sich in die Gesichter eingezeichnet. Das sind ernste, resignierende Gesichter, die kei­nen Zweifel darüber lassen, daß diese Demonstration nichts mit einem fröh­lichen Heimattreffen zu tun hat.“ Auf diese Massenveranstaltung im August 1950 geht der „Tag der Heimat“ zurück, den der Bund der Vertriebenen (BdV) traditionell begeht. Das von der BdV-Bundesversammlung festgelegte Leit­wort für 2020 lautet naheliegenderweise: „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“.

Diese wurde in viele Sprachen über­setzt und erregte auch im Ausland das Aufsehen, das sich die Heimatvertriebe­nen gewünscht hatten. Allerdings taten die Funktionäre des Bundes der Vertrie­benen und der ostdeutschen Lands­mannschaften in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nichts dafür, ein Miß­verständnis aufzuklären, das sich die etablierte Politik in Deutschland bald nutzbar machte. Sie zog aus der Ankün­digung in der Charta der Heimatver­triebenen, auf Rache und Vergeltung verzichten zu wollen, den Schluß, dies bedeute auch den Verzicht auf die Wie­dergewinnung der ostdeutschen Hei­matgebiete.

Daran hatte aber 1950 kein Heimatvertriebener auch nur im Traum gedacht. Bei den Begriffen „Rache“ und „Vergeltung“ hatte man vor Augen, was Russen, Polen und Tschechen den Deut­schen in Ostdeutschland und im Sude­tenland gerade einmal fünf Jahre zuvor alles an Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten angetan hatten: Massenmord, Gewaltorgien, millionenfache Vergewaltigungen von Frauen, Deportation auf Hungermärschen und in offenen Gü­terwaggons, Zwangsarbeit, Menschen­schinderei in polnischen Konzentrationslagern, Hungertod und Kinder­sterben. Bei der Wiederherstellung des territorialen Rechtszustandes und der Rückgabe der ostdeutschen Heimatgebiete sollte keinem Russen, Polen oder Tschechen Vergleichbares angetan werden. Nicht mehr und nicht weniger war mit dem Verzicht auf Rache und Vergeltung gemeint. Antideutsche Kräfte im In- und Ausland nutzten die­sen Passus schamlos, um den Eindruck zu erwecken, die Heimatvertriebenen selbst hätten sich längst mit dem Verlust ihrer Heimatgebiete abgefunden.

(…)

Die Charta ist so etwas wie das Grundgesetz der deutschen Heimatver­triebenen und gilt bis heute als Werte­kompaß des 1957 gegründeten BdV. In seinem 2005 erschienenen Buch Wer Sturm sät: Die Vertreibung der Deut­schen, das als „Streitschrift“ deklariert wurde, um üble Polemiken zu rechtfer­tigen, wendet sich Micha Brumlik ent­schieden dagegen, daß der BdV ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ als regierungsamtliches Projekt verwirklichen darf. Dieses Zentrum dürfe kei­nesfalls als „nationales Erinnerungs- und Trauerprojekt“ entstehen, sondern nur als „transnationales Projekt“. Diese Sichtweise folgt dem abstoßenden Ver­dikt, daß die Massenaustreibung Deut­scher eine gerechte Strafe für Hitler ge­wesen sei, eine „moralische Strafe gegen ein moralisch schuldig gewordenes Volk“, so Brumlik.

Das eine gefühlte Ewigkeit dauernde Gezerre um das Zentrum gegen Vertrei­bungen zeigt die ganze Verklemmtheit der deutschen Erinnerungspolitik. Das BdV-Projekt sollte die Vertreibungen im 20. Jahrhundert dokumentieren und dabei natürlich auch dem Schick­sal der Deutschen genügend Raum ge­ben. Im Jahr 2000 gründete der BdV dafür eine gleichnamige Stiftung, de­ren Vorsitzende seine damalige Präsi­dentin Erika Steinbach wurde. Weil sie mit der Konzeption des Bundes der Vertriebenen nicht übereinstimmte, verständigte sich die schwarz-rote Bundesregierung 2005 auf die Grün­dung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, die drei Jahre später per Gesetz errichtet wurde.

2008 fiel auch die Entscheidung, das Berliner „Deutschlandhaus“ in der Nähe des Potsdamer Platzes zum künf­tigen Sitz des Dokumentationszen­trums der Bundesstiftung zu machen. Daß dort in Brumlik-Manier die Ver­treibung als folgerichtige Reaktion auf den Nationalsozialismus interpretiert wird, beweist ein Beitrag auf der Inter­netseite der Staatsministerin für Kultur und Medien: „Die Vertreibungen von mehr als zwölf Millionen Deutschen stehen dort im Fokus. Aufgrund der ag­gressiven Außenpolitik des Deutschen Reiches wurden sie aus den früheren preußischen Ostprovinzen sowie den Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa während und nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben. Das Do­kumentationszentrum trägt im Geist der Versöhnung und in der Kontinuität der Verständigungspolitik dazu bei, an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten.“ Hartmut Lieger

Quelle: zuerst.de vom 06.08.2020 


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Alexander Berg
3 Jahre zuvor

Das Leben kennt keine Heimatvertriebenen, weil es auch keine Länder und Staaten kennt. Hier wird überpositives Recht mit von Menschen gemachten Recht verwechselt.

gerhard
gerhard
3 Jahre zuvor

In welchen Geschichtsbüchern von heute ist das vermerkt ???