Lateinamerika – Wer ist Brasiliens Übergangspräsident Temer? – Neoliberaler Schock-Therapeut von Washingtons Gnaden

 

Brasiliens Übergangspräsident Michel Temer

Brasiliens Übergangspräsident Michel Temer

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Vor zwei Wochen beschloss der Senat Brasiliens, Staatspräsidentin Dilma Rousseff für 180 Tage zu suspendieren, um ihre Amtsenthebung zu prüfen. Als Übergangspräsident fungiert seitdem Michel Temer, der zuvor das Amt des Vizepräsidenten inne hatte. Doch wer ist der Mann, der nun mit dem Wohlwollen Washingtons die nächste Stufe der Karriereleiter erklommen hat? Und welche Interessen vertreten die von Temer eingesetzten Minister? RT Deutsch mit einem Profil des neuen starken Mannes in Brasilien.

Von RT Deutsch Lateinamerika-Korrespondent Frederico Füllgraf

Am 13. Mai 2016, ein Tag nach Temers Einsetzung als Übergangspräsident, strich der Bürgermeister der Kommune Btaaboura, im Norden Libanons, das Wort „Vize“ vom einem Straßenschild. Herbeigeholte Einwohner leisteten euphorischen Beifall, verdeutlicht nun die neue „Präsident-Michel-Temer-Straße“, dass einer von ihnen, nämlich der Nachfahre ausgewanderter Dorfbewohner, zu einem der mächtigen Männer in der Neuen Welt emporgestiegen ist.

Schnitt nach Brasilien, zur gleichen Stunde: „Fora Temer golpista! – Putschist Temer – raus!“, skandierten zigtausende Demonstranten vor dem Präsidentenpalast in Brasilia und im Herzen São Paulos. Die stolzen, doch ahnungslosen Libanesen verstanden die Welt nicht mehr.

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Im Hagel inländischer Massenproteste und internationaler Kritik gegen die von vielen als unrechtmäßig bezeichnete Absetzung Dilma Rousseffs, hätte der Auftakt der Interimsregierung Michel Temers nicht katastrophaler sein können.

Demontage des bescheidenen Sozialstaats

Der neue Übergangspräsident zögerte indes nicht, seinem Ruf alle Ehre zu machen. Michel Temers erste Amtshandlung war die Abschaffung des brasilianischen Kulturministeriums aus Spargründen, das 2015 jedoch nur lächerliche 0,00027 Prozent des Staatshaushalts verbrauchte. Beobachter vermuten hinter der Initiative so auch einen Vergeltungsschlag gegen die überwiegende Mehrheit der Rousseff freundlich gesinnten Künstler und Intellektuellen im Land.

Und das neue Kabinett Brasiliens tut es dem Mann an der Spitze gleich. Temers Gesundheitsminister, Ricardo Barros, sorgte als nächstes für landesweite Entrüstung. Er erklärte, das öffentliche Gesundheitssystem sei zu aufwendig, “die Leute sollen sich gefälligst privat versichern”. Mit einer 10-prozentigen Etatkürzung will er das von Ex-Staatspräsident Luis Inácio Lula da Silva eingeführte, weltweit gerühmte Sozialprogramm “Bolsa Família” (Familien-Bonus) und damit die Grundsicherung von 1,4 Millionen Familien beschneiden.

Mendonça Filho, Temers Bildungsminister, drohte, öffentliche Schulen und Universitäten zu privatisieren, und Bruno Araújo, Interimsminister für Städtebau, annullierte den kürzlich unterzeichneten Finanzierungsauftrag für 11.250 Sozialbauwohnungen.

Wie hirnrissig dieser Anschlag auf die Sozialprogramme ist, zeigt die simple Gegenüberstellung mit dem brasilianischen Schuldendienst im Haushalt 2014: Während die Sozialausgaben bescheidene 3,08 Prozent beanspruchten, verschlangen die Banken umgerechnet 280 Milliarden Euro, rund 45,11 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Die angekündigten Eingriffe folgen der neoliberalen Schock-Doktrin.

Privatisierungs-Rundumschlag

Mit der Verbreitung von kaum nachweisbaren Zahlen, läuft die Propaganda-Maschine jedoch auf Hochtouren. Die Regierung Rousseff habe ein Finanzierungsloch von umgerechnet 40 Milliarden Euro hinterlassen („Rombo deixado pelo governo Dilma se aproxima dos R$ 150 bilhões“), schrieb O Globo, am 18.5.2016.

Allem Anschein nach, soll die Bevölkerung auf die längst angekündigte, “bittere Medizin” eingestimmt werden. Die “Reform” des Rentensystems habe höchste Priorität, warnte Finanzminister Henrique Meirelles, ein ehemaliger CEO der Bank Boston und Zentralbank-Chef der Regierung Lula. Das bisherige Rentenalter soll im Sinne des Neoliberalismus von 58 auf 65 Jahre erhöht werden.

Völlig unberührt von der Temer-Regierung bleiben hingegen die seit Jahren vom Parlament blockierte, progressive Steuerreform und die Reform des ineffizienten, rechtslastigen und mit 434.932 Angestellten unanständig aufgeblähten Justizapparates, der 1,2 Prozent (Deutschland: 0,32 Prozent) des Brutto-Inlandproduktes verschlingt und unverschämte Richter-Privilegien sichert.

Doch Brasiliens belastendster Korruptionsfall ist die flächendeckende Steuerhinterziehung. Nach Berechnungen des Berufsverbandes der Staatsanwälte im brasilianischen Finanzministerium (Sinprofaz) summierte sie 2015 schwindelerregende 290 Milliarden Euro. Statt hartes Vorgehen gegen mächtige Steuer-Delinquenten – darunter TV Globo – anzukündigen, sollen nun die Niedrigverdiener gestraft werden.

Statt gegen erwähnte Versäumnisse anzugehen, erwägen Temers Männer die Teil-Privatisierung der Staatsbanken Banco do Brasil, Caixa und der Landesbank Amazonia, sowie von Post, Münzanstalt, Infraero, Eletrobras und von 230 Energie-Unternehmen.

Die ehrlosen Männer des Präsidenten

Doch wer sind die Männer – Frauen gibt es keine – in Temers Kabinett? Der neue Zentralbankchef und gebürtige Israeli, llan Goldfajn, war bis vor wenigen Tagen Chefökonom von Itaú-Unibanco, der grössten Privatbank Lateinamerikas. Er ist nach wie vor auch deren Teilhaber und personifiziert einen eklatanten Interessenkonflikt. Goldfajn soll der Zentralbank Autonomie verleihen. Der Volksmund umschreibt solche Fälle als Parabel „vom Fuchs, der zum Beschützer des Hühnerstalls berufen wird“.

Ein ähnlicher Fall ist Temers Nominierung des konservativen Senators Blairo Maggi zum neuen Landwirtschaftsminister. Blaggi ist der weltgrößte Soja-Pflanzer und plädiert seit Jahren für die Abschaffung von Indianer-Sonderrechten. Victoria Tauli-Corpuz, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Indigene Völker, erklärte deshalb am 16. Mai, es sei zu befürchten, dass Interessen der Eliten in Brasilien mit Gewalt und Rechtsverletzung der indigenen Völker, gar mit einem Ethnozid durchgesetzt würden.

Gegen sieben weitere Minister der Temer-Regierung ermittelt die Justiz wegen schwerwiegender Korruption: Sie steckten allesamt Bestechungsgelder von Petrobras-Autragsunternehmen in ihre Taschen.

Der Hardliner und neue Justizminister Alexandre de Moraes hat vier Jahre lang in mindestens 123 Prozessen das Verbrecher-Syndikat „Erstes Kommando der Hauptstadt“ (PCC) – eine mörderische Drogenhandel- und Geldwäscher-Bande – als Anwalt vertreten, berichtete O Estado de São Paulo („Novo secretário de Alckmin defende cooperativa de van“, 9.1.2015) bereits vor eineinhalb Jahren.

Seinen gröbsten Fehlgriff leistete sich Temer jedoch mit der Nominierung André Mouras zum Fraktionschef im Parlament. Der in mehreren Korruptionsfällen, vor allem wegen Mordverdacht angeklagte Moura, verleiht der illegitimen Regierung die Aura des Gruselkabinetts.

Großer Widerstand erwartet Temer auch auf internationaler Ebene. Dessen Außenminister José Serra legte sich gleich am zweiten Regierungstag mit einem halben Dutzend lateinamerikanischer Regierungen, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Unasur (Union der Staaten Südamerikas) an, deren Protest gegen Rousseffs Amtsenthebung er als „anmaßende Verbreitung von Unwahrheiten“ disqualifizierte. Ecuador berief seinen Botschafter zurück, El Salvador und Uruguay erkennen Temers Regierung nicht an.

Dass Serra auf dem Außenminister-Posten sitzt ist kein Zufall, und signalisiert, dass die Übergangsregierung es eilig hat. Er versprach bereits 2009 dem US-Multi Chevron – der gleiche, der im Werte mehrerer Milliarden US-Dollar von Ecuador wegen Umweltvernichtung in Amazonien verklagt wurde – das von Lula erlassene Ölförderungs-Regulierungsmodell zu annullieren – Cable: 09RIODEJANEIRO369_a – WikiLeaks

Temer: „Spielleiter“ und CIA-Informant

Und wer ist Michel Temer? Als Jugendlicher träumte der Interimspräsident von einer Pianisten-Karriere, dann von literarischem Erfolg. In den Pausen seiner Amtshandlungen schreibt er heute noch dürftige Liebesgedichte.

Doch bei der Ernennung seines Kabinetts mit 27 durchweg weißen, reichen, männlichen Ministern und keiner einzigen Frau, oder einem Afrobrasilianer, sorgte Temer für weltweites Stirnrunzeln. Der 75-Jährige verhält sich in Minderheiten- und Gleichberechtigungs-Fragen stockkonservativ. Er ist mit dem 43 Jahre jüngeren, Ex-Model Marcela Temer in zweiter Ehe verheiratet, die er gern als „schön, anständig und ans Heim gebunden“ lobt.

Nach öffentlichem Protesthagel versucht Temer seit einer Woche, eine Frau ins Amt des zum Sekretariat degradierten Kulturministeriums zu hieven, fünf Künstlerinnen haben elegant abgesagt.

Als farbloser Politiker aus São Paulo machte Brasiliens neuer Mann an der Spitze in der rechtsliberalen Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) Karriere und stieg als Eduardo Cunhas Vorgänger zum langjährigen Präsidenten der Abgeordnetenkammer auf. Der gelernte Jurist fiel der Mehrheit der Brasilianer erst Ende 2009 als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten neben Dilma Rousseff auf.

Seine vollständige Kontrolle über den Parteiapparat der PMDB war schließlich ausschlaggebend für das sechsjährige Bündnis mit der Arbeiterpartei. Koalitionen sind in Brasilien Synonym für Verteilung von Pfründen, jedoch: Temers „Gefräßigkeit“ war von Anbeginn Ex-Präsident Lula und Dilma Rousseff verdächtig. Der Vize pflegte stets den diskreten, geheimnisumwitterten Auftritt.

Lulas Ex-Minister für Integration, der wortgewandte Ciro Gomes, warnte in den Medien: “Temer ist ein widerlicher Verschwörer und der Hauptmann des geplanten Putschs!”

Gegen den neuen Übergangspräsidenten Brasiliens und früheren Vize wird überdies im Petrobras-Skandal ermittelt. Nicht Rousseff – die aufgrund dieser Vorwürfe nun suspendiert wurde – sondern Temer soll die korrupte Geschäftsführung des Konzerns abgesegnet haben. Gravierender noch: in seinem und Cunhas Auftrag sollen Mittelsmänner Schmiergelder für seine Partei von Baulöwen erpresst haben. Temers Name wird mehrmals als Geldempfänger in geheimen Unterlagen der Firmen OAS und Camargo-Correa erwähnt. Temer leugnet alles, die Vorwürfe seien ein „Angriff auf [seine] Ehre“.

Dass Temer jedoch durchaus zu Verschwörungen neigt und auch Landesverrat nicht abgeneigt ist, belegen Unterlagen der US-Behörden seit 2006, die WikiLeaks veröffentlicht hat.

Aus den als „geheim“ und „nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Telegrammen der US-Botschaft in Brasilien, vom 11. Januar und 21. Juni 2006 geht hervor, dass Temer sich mit den US-Geheimdiensten über den damaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva unterhielt. Im Hinblick auf die damalige Wahlkampagne, die in der Wiederwahl Lulas gipfelte, pries Temer seine PMDB als unumgängliches Zünglein an der Waage an und spielte mit den US-Amerikanern Szenarien durch, die den Wahlsieg der Partei besiegeln sollten: Cable: 06SAOPAULO30_a – WikiLeaks

Auf den Straßen, in besetzten Schulen und Regionaldependancen des Kulturministeriums tobt der Widerstand nach dem „kalten Putsch“: “Fora Temer – Temer raus!”, heißt die von Hunderttausenden skandierte Losung. Die Mehrheit der Brasilianer scheint nicht bereit zu sein, die Absetzung der gewählten Präsidentin Rousseff hinzunehmen. Dass Temer nun zunehmend selbst unter Druck gerät, belegt ein erster Rückzug: Das Kulturministerium soll vorerst nun doch nicht abgeschafft werden.

Quelle: Russia Today (RT) vom 24.05.2016

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