Staseve Aktuell – Arbeitsgemeinschaft Staatlicher Selbstverwaltungen

Parteien in Europa: Das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen

Von Hans-Jürgen Schlamp, Rom

DPA

Wahlplakat in Berlin (2013): „Fähigkeit verloren, die Bürger einzubinden“

SPD und CDU haben seit 1990 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Die Erosion der Parteien ist kein deutsches Phänomen, sie findet in ganz Europa statt. Unsere Demokratie ändert sich dadurch grundlegend.

Schön waren sie, die guten, alten, linken Zeiten in Italiens „roter Toskana“: In jeder Stadt, in jedem Dorf politisierten die Genossen im Parteilokal, dem „Circolo“. Und vielerorts regierten sie auch. Ganz früher als Kommunisten, später als Linksdemokraten, dann als Sozialdemokraten im „Partito Democratico“, kurz: PD.

Aber nun verschwinden immer mehr „Circoli“. Andere existieren zwar noch, freilich abgeschlossen und verstaubt. Drinnen, auf dem Regal steht hier und da noch die Büste von Karl Marx, aber es kommt keiner mehr zum Diskutieren.

Der Trend gilt nicht nur in der Toskana, sondern überall in Italien. Im sizilianischen Messina wurden 57 von 61 „Circoli“ geschlossen. In Rom gab es 2014 noch 110 Parteilokale, jetzt sind es 15. Wozu auch teure Parteilokale vorhalten, wenn die Genossen sich in Scharen vom Acker machen? Von 830.000 PD-Mitgliedern im Jahre 2009 waren beim Zählen im Jahre 2014 nur noch 366.000 übrig. Und seitdem sind es vermutlich noch weniger geworden.

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Parteimitglieder sind nur noch Randgruppen

Doch Partei- und Regierungschef Matteo Renzi mag sich trösten, der Mitgliederschwund trifft nicht nur seine Partei und nicht nur sein Land. Fast überall in Europa laufen den meisten Parteien die Mitglieder davon.

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts, schreibt die Politikwissenschaftlerin Ingrid van Biezen in einem Aufsatz für die London School of Economics, hätten die politischen Parteien Europas „die Fähigkeit verloren, die Bürger einzubinden“. Nach ihrem Befund waren in den EU-Staaten schon 2009 im Schnitt nur 4,7 Prozent der Wahlberechtigten in einer Partei.


Die Standard-Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2015 wurde vom 16. bis zum 27. Mai 2015 in Direktinterviews durchgeführt. Insgesamt wurden 31.868 Personen in allen EU-Mitgliedstaaten sowie den Kandidatenländern befragt.





Seither hat die politische Erosion eher noch an Tempo zugenommen. Nahezu überall verliert die Parteiendemokratie an Attraktivität.

In Skandinavien sind die lange dominierenden Sozialdemokratien mit den Jahren immer tiefer in die Krise gerutscht. Die Parteien in Frankreich, Italien und Großbritannien haben in den vergangenen drei Jahren zusammen eine bis eineinhalb Millionen Mitglieder verloren. Bei den Briten ist inzwischen nicht einmal jeder hundertste Wahlberechtigte in einer Partei, genauso so wie in Polen oder in Lettland. Die Mitgliedschaft in einer Partei wird zum Randgruppen-Phänomen.



In Deutschland sind die beiden großen Parteien SPD und CDU seit 1990 fast die Hälfte ihrer Mitglieder losgeworden. Und die Talfahrt geht weiter.

Bei den übrigen Parteien sieht es kaum besser aus. Ausnahmen bilden AfD und Grüne, die mit zusammen nur etwa 80.000 Mitgliedern am Trend freilich wenig ändern. So ist auch in Deutschland der Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten unter die Zwei-Prozent-Grenze gerutscht. Und wie in der Toskana hocken auch in deutschen Partei-Ortsvereinen alternde Restbestände einer einst politisierten Generation. Wer kein Rentner ist, arbeitet vermutlich im öffentlichen Dienst – denn dort ist die Parteimitgliedschaft noch immer hilfreich bei der Karriere.

Natürlich bemühen sich die Funktionäre, ihre Parteien moderner und attraktiver zu machen: mit einem bunten Internet-Auftritt, Partei-Apps, offenen Formen der Kandidatenkür und allem anderen, was Unternehmensberater so im Koffer haben.

Das wird zwar nicht viel bringen. Aber in den Parteiführungen hält sich die Trauer darüber in Grenzen. Längst haben die realisiert, dass die alte, von den Mitgliedern gesteuerte Organisation viel schwieriger zu führen war.

Wer vermisst denn mäkelnde Mitglieder, endlose Programmdiskussionen mit den Delegierten von Hessen-Süd oder Köln-Nord, Wahlkampfauftritte bei den Parteifreunden in Annaberg-Buchholz oder Nürnberg-Langwasser? Und tatsächlich haben sich ja die meisten Parteien zu ganz anderen Organisationen entwickelt – in denen sich die Mitglieder überflüssig fühlen und in denen sie auch weitgehend überflüssig sind. Parteien als schlanke Unternehmen, die den Wählern ihr Führungspersonal anbieten, das diese mit Stimmzetteln kaufen können. Das ist zeitgemäß.

 

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Personen statt Programme

Programme sind out, Weltanschauung war gestern. Vor allem die richtige Person an der Spitze ist heute entscheidend für den Erfolg einer Partei.

Ob bei der CDU oder bei Siriza in Griechenland, bei der PD in Italien oder Podemos in Spanien – Personen verdrängen die Programme und ersetzen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig die Parteien. Man ist für oder gegen Merkel, nicht für oder gegen die CDU. Man findet Pablo Iglesias oder Alexis Tsipras gut oder schlecht. Italiens Regierungschef Matteo Renzi ist für die einen „der Beste“, für die anderen „der Schlechteste“ – aber er ist, so eine aktuelle Umfrage, immer die Nummer eins, auf der Positiv- wie auf der Negativseite.

Damit die Führungspersonen wendig, also handlungsfähig bleiben, muss Pragmatismus die Weltanschauung ersetzen. Der macht auch traditionelle Verbindungen etwa zu den Kirchen (bei den Konservativen) oder den Gewerkschaften (bei den Linken) obsolet. Man braucht sie nicht mehr. Sie stören bei erratischen Richtungswechseln und bringen nicht mehr viel, weil sie ja selbst vom Mitgliederschwund betroffen, mithin geschwächt sind.Und: Bei Ortsvereinen mit wenigen Mitgliedern kann der Parteivorstand viel leichter von oben entscheiden, wer ihm unten, an der Basis lieb ist und wer nicht. Dass im Zuge dieses politischen Umbaus auch die Wahlbeteiligung dramatisch sinkt, kann man hinnehmen: Die Mehrheit von wenigen Stimmen ist auch eine Mehrheit.

Die Mehrheit der Bürger misstraut den Parteien

Für das klassische Demokratieverständnis ergeben sich dabei durchaus Probleme.

In den meisten europäischen Ländern werden die Parlamente und damit auch die Regierungen ausschließlich oder überwiegend von den Parteien bestückt. Die sind Mittler zwischen den Bürgern und den Staatsorganen.

Doch ist das noch demokratisch, wenn die Parteien nur noch einen winzigen Teil der Bevölkerung vertreten? Schlimmer noch: Wenn die übergroße Mehrheit der Bürger in Europa kein Vertrauen mehr in die Parteien hat?

In Dänemark, Finnland, den Niederlanden traut immerhin noch ein gutes Drittel des Volks ihren Parteien, in Deutschland und Österreich ein Viertel, aber in Frankreich, Italien, vielen osteuropäischen Ländern sind es gerade noch zehn Prozent oder noch viel weniger.

Überall misstraut die Mehrheit der Bürger den Parteien, aus denen sich ihre Regierung rekrutiert.Und nicht nur die Regierung, auch die Spitzenjobs in der Verwaltung, in der Justiz, bei der Polizei werden meist von Parteien vergeben. Aber solange die Bürger „nicht andere Partizipationsformen sehr viel stärker“ nutzen, so der Politologe Oskar Niedermayer, „passiert nichts“.

Trendbrecher Labour Party

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Jeremy Corbyn: Gegen den Trend

Doch ein Beispiel gibt es, das voll gegen den Trend läuft. Ausgerechnet in England, ausgerechnet bei der Labour PartyMit der ging es seit 1997 immer nur bergab. Die Hälfte der damals 400.000 Mitglieder sagte: „Goodbye Labour“. Bis im vergangenen Jahr Jeremy Corbyn den Vorsitz übernahm. Ein 66-Jähriger, der aussieht wie ein Lehrer und auftritt wie einer aus der Nachbarschaft.

Ein klassischer Linker der Achtzigerjahre„, staunten die Medien, der gegen New Labour und Tony Blair und gegen den Irakkrieg war.Und Tony Blair hetzte, als es im vorigen Herbst um den Labour-Vorsitz ging, mit Corbyn drohe der Partei die „Auslöschung“. Der unbequeme, unzeitgemäß wirkende Kandidat wurde trotzdem mit großer Mehrheit gewählt. Und seither hat Labour 180.000 neue Mitglieder gewonnen. Das sind mehr als die regierenden Konservativen insgesamt haben (etwa 150.000).

Und nun stellt sich die Frage: Ist das nur englischer Anachronismus oder ist das der Vorbote einer neuerlichen Trendwende, wie damals, als Tony Blair New Labour kreierte? Back to the roots, to Old Labour?


Hans-Jürgen Schlamp, Jahrgang 1950, absolvierte die Uni (Dipl. Volkswirt) und die Kölner Journalistenschule, war ab 1975 Wirtschaftsredakteur beim Westdeutschen Rundfunk, später WDR-Korrespondent in Bonn; 1986 wechselte er ins Bonner Büro des SPIEGEL, war viele Jahre SPIEGEL-Korrespondent in Rom und später in Brüssel. Heute lebt er in Italien.

Quelle: Spiegel-online vom 22.02.2016

 

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