Staseve Aktuell – Arbeitsgemeinschaft Staatlicher Selbstverwaltungen

Verschwörungstheorien in Sachsen: „Die produzieren ein Video nach dem anderen“

 

Leipzig – In Sachsen protestieren seit Wochen Menschen gegen Corona-Schutzmaßnahmen. Auf den Demonstrationen sind dabei auch abstruse Thesen zu hören. So wird behauptet, Bill Gates habe das Corona-Virus aus Profitgier erfunden oder die Bundesregierung plane die Errichtung einer „Hygiene-Diktatur“. Schon seit Jahresbeginn beschäftigen sich Mitarbeiter die Amadeu Antonio Stiftung konkret mit solchen Verschwörungstheorien in Sachsen. Die LVZ sprach mit Projektleiter Benjamin Winkler über die Situation im Freistaat.

Herr Winkler, worum geht es bei ihrem Projekt „Debunk“ genau?

 

Wir wollen in den nächsten fünf Jahren intensiv zu Verschwörungsideologien und Antisemitismus in Sachsen arbeiten. Uns interessiert besonders, welche pädagogischen und zivilgesellschaftlichen Konzepte wirksam sind, um die Verbreitung zu erschweren. Dazu werden wir mit Lehrern, Schülern und Pädagogen zusammen arbeiten. Aus den Anschlägen von Halle und Hanau wissen wir auch, dass Verschwörungsideologien Personen zu gewaltsamen Handeln motivieren können. Unser Projekt möchte die Prävention stärken sowie die Interventionsfähigkeit der demokratischen Gesellschaft unterstützen.

Mit Blick auf die kruden Thesen, die derzeit auf den Corona-Demos auch zu hören sind, hätte der Zeitpunkt des Projekts kaum besser gewählt sein können.

Das stimmt. Wir hatten allerdings auch schon länger ein Gefühl, dass sich bestimmte Kreise, Szenen und Milieus, die bisher einzeln gesehen wurden, in Sachsen immer mehr miteinander vernetzen. Dass diese nun allerdings durch die Massenerfahrung mit dem Corona-Lockdown so einen Zuwachs erhalten, war nicht vorauszusehen. Das ist schon interessant, wie umfangreich die Vernetzung jetzt passiert.

Abgesehen von Corona: Gibt es noch andere Dinge, die das Wachstum der Verschwörungsszenen begünstigen?

Die selbst ernannten „alternativen Medien“ – zum Beispiel der Kanal von Ken Jebsen oder das Videoportal Nuoviso – sind inzwischen sehr gut aufgestellt. In den vergangenen fünf bis zehn Jahren haben sie ihre Arbeit enorm professionalisiert und über Portale wie Youtube ein größeres Publikum gefunden. Nun können sie ihre Informationen regelrecht sprießen lassen. Wenn man sich in den Telegram-Gruppen der Corona-Proteste umschaut, dann fällt auf, dass dort enorm viel Material solcher „alternativer Medien“ gepostet wird. Die Portale produzieren ein Video nach dem anderen, eine große Anzahl von Leuten macht Beiträge über die Demos, die in allen Chats weiterverbreitet werden. Das ist schon beeindruckend, wie das funktioniert.

Teilnehmer einer Demonstration der „Bewegung Leipzig“ am 5. Mai in der Messestadt. Quelle: Matthias Puppe

Jetzt demonstrieren Tausende bundesweit gegen Schutzmaßnahmen, die ein Virus eindämmen und Menschen vor schweren Krankheiten bewahren sollen. Das ist doch paradox.

Das ist tatsächlich bemerkenswert, auch wenn man bedenkt, wie es lange Zeit im Lockdown überall noch hieß: Bleibt zu Hause, seid solidarisch. Gleichzeitig existierten gewisse Szenen aber trotzdem schon. Zum Beispiel Leute, die nur an alternative Medizin glauben, so genannte Impfkritiker. Die hatten schon immer mit Verschwörungstheorien zu tun, weil sie ihre Ablehnung der Wissenschaft für sich selbst auch begründen müssen. Ein anderes Beispiel ist die „Truther“-Szene, die etwa seit dem 11. September 2001 behauptet, alle offizielle Quellen würden lügen oder manipulieren. In Deutschland sehr präsent ist zudem die Reichsbürger-Szene, welche die Existenz der Bundesrepublik ablehnen. Vor Corona fehlte vielleicht das verbindende Element, ein Scharnier. Jetzt gibt es eine kollektive Krisenerfahrung für alle. Die Szenen treten nun an Menschen heran, die sich einfach nur Sorgen machen und sie haben große Chancen, diese Leute für ihre Thesen abzugreifen.

Jene Demonstranten, die sich nur Sorgen um sich und unsere Demokratie machen, schaffen es allerdings kaum, sich von extremistischen Inhalten abzugrenzen. Warum funktioniert das nicht?

Das hat zwei verschiedene Gründe. Es gibt einerseits die „Fraktion Meinungsfreiheit“, die das Thema sehr, sehr ernst nimmt – fast schon im esoterischen Sinn. Sie denken, jeder muss sich äußern können, egal, ob er Schwachsinn oder Extremistisches sagt, oder nicht. Sie wehren sich vehement dagegen, dass eine Gruppe gespalten wird oder es zur Abgrenzung gegen irgendwas kommt. Andererseits gibt es in jeder Bewegung auch sehr dominante Gruppen. In den sächsischen Telegram-Chats, in denen die Demos vielfach organisiert werden, treten dabei vor allem Reichsbürger, klassische Verschwörungstheoretiker und extreme Rechte dominant auf. Sie versuchen die Mitdiskutierenden zu beeinflussen. Für uns als Beobachter ist dabei die Kontroverse um das Grundgesetz besonders spannend: Denn die Reichsbürger behaupten ja, es sei gar keine Verfassung, die Bundesrepublik existiere deshalb nicht. Und nun treffen sie in den Gruppen auf Menschen, die für das Grundgesetz demonstrieren wollen.

Wenn man nach BerlinStuttgart oder Leipzig schaut, fällt auf, dass sich auch viele Bildungsbürger an den verqueren Thesen beteiligen. Ist das neu?

Es ist generell ein Klischee zu glauben, dass Menschen mit Verschwörungsthesen einen niedrigen Bildungsgrad haben. Das lässt sich wissenschaftlich nicht nachweisen. Es ist sogar eher ein Muster, dass Personen mit einem akademischen Hintergrund als Ideengeber in den Verschwörungsnmilieus auftreten – als gefallener Engel, der sich im Mainstream nicht durchsetzen konnte. Sie versuchen ihren Statusverlust wettzumachen. Ein sehr bekannter Fall ist der Schweizer Daniele Ganser, der sich selbst als Forscher im Themenbereich Krieg und Frieden sieht und der auch in Sachsen inzwischen viele Vorträge gehalten hat. Ganser ist bei anderen Wissenschaftlern höchst umstritten, was vermutlich an seinem Ego gekratzt hat. Deshalb hat er sich außerhalb der akademischen Wissenschaft nun ein neues Publikum gesucht und trifft auf begeisterte Zuhörer.

Gibt es regionale Unterschiede der Verschwörungsbewegungen in Sachsen?

Das sind tatsächlich unterschiedliche Kreise. In den kleineren Ortschaften in Ostsachsen, im Erzgebirge oder im Vogtland sind es die extremen Rechten, die als Initiatoren der Proteste auftreten und die Situation für sich nutzen wollen. In Leipzig ist es dagegen ein diffuseres Milieu, welches auch nicht klar im rechten Spektrum entstanden ist. Ich denke, das sollte man anerkennen. Aber gleichzeitig gibt es auch in Leipzig eben keine Abgrenzung zu extremen Positionen, es gibt keine Schranken für Leute aus der rechtsextremen Szene. Hier ist lediglich das Zeigen von Flaggen oder Symbolen auf den Demos verboten – allerdings nur als strategische Abgrenzung, damit die Bewegung nicht eindeutig klassifiziert werden kann.

Die Schutzmaßnahmen werden nach und nach aufgehoben. Werden die Proteste verschwinden?

Ich glaube nicht. Die Situation heute ist durchaus vergleichbar mit der Gründung von Pegida 2014. Jede Bewegung, jede Organisation benötigt ein Gründungsritual, eine gemeinsame kollektive Erfahrung. Bei den Protesten jetzt ist es der Lockdown. Wenn man in die Zukunft schaut, lässt sich schon erahnen, dass sich Krisen häufen werden – vor allem wirtschaftliche. Insofern werden die Akteure das weiter aufgreifen und natürlich Fragen stellen: Wer ist daran Schuld, dass es so viele Arbeitslose gibt? Wer ist Schuld, dass die Kultur nicht mehr existiert? Wer ist Schuld, Leute ihre Wohnung verlieren? Dann werden Sündenböcke gesucht. Verschwörungsideologien bieten ja immer ziemlich klare Definition von Feindbildern, nicht nur Bill Gates. In Krisen ist es schließlich sehr attraktiv, einfach klare Feindbilder zu benennen, anstatt zuzugeben, das es die Lage viel komplizierter ist.

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 20.05.2020 


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