Staseve Aktuell – Arbeitsgemeinschaft Staatlicher Selbstverwaltungen

Hunderttausende Stromsperren – 15,7 Prozent von Armut bedroht

Mindestens 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland laufen Gefahr, in Armut abzustürzen. Hunderttausenden wird gar der Strom abgestellt. Aus Sicht eines Armuts-Experten ist diese Statistik jedoch „schwachsinnig“.

02.03.2017

© DPAMehr als 330.000 Haushalten in Deutschland wurde zuletzt binnen eines Jahres der Strom abgestellt. Stromsperren gelten in Deutschland als Ausdruck von Armut.

Mehr als 330.000 Haushalten in Deutschland wurde zuletzt binnen eines Jahres der Strom abgestellt. Von 2011 bis 2015 schwankte die Zahl der jährlichen Stromsperren zwischen rund 312.000 und 352.000, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht, die der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegt.

Stromsperrungen gelten als Folge von Armut in Deutschland. Betroffen sind oft Hartz-IV-Bezieher. An diesem Donnerstag legen der Paritätische Wohlfahrtsverband und weitere Organisationen einen neuen Armutsbericht vor, der Tendenzen der Armutsentwicklung in Deutschland aufzeigen soll. Nach der Antwort der Regierung auf die Anfrage der Linken beträgt der Anteil der durch Armut gefährdeten Menschen in Deutschland je nach Datenquelle zwischen 15,7 und 16,7 Prozent.

Bei den Stromsperren beruft sich die Regierung auf Daten der Bundesnetzagentur. Zudem gab es 2015 in rund 44.000 Fällen Sperrungen von Gas. Mehr als 6,2 Millionen mal wurden Stromsperrungen angedroht. Die Höhe der Forderung der Grundversorger an die Betroffenen zum Zeitpunkt der Androhung lagen bei 119 Euro im Durchschnitt.

„Eine stille Katastrophe“

Die Sprecherin der Linkenfraktion für Energie und Klima, Eva Bulling-Schröter, die die Anfrage gestellt hatte, sagte: „Energiearmut in Deutschland ist für Millionen von Menschen eine stille Katastrophe, besonders in den kalten und dunklen Wintermonaten.“ Während Deutschland als EU-Stromexportmeister so viel Energie ins Ausland verkaufe wie nie zuvor, sei es auch Europameister bei Energiesperren. Trotz solcher skandalöser Ungerechtigkeiten wolle die Bundesregierung Energiearmut nicht sehen.

„Viele Menschen schämen sich ihrer Zahlungsunfähigkeit, sind stigmatisiert, ziehen sich bei Stromsperren von Freunden und sozialem Umfeld zurück, was besonders Kindern schadet“, sagte Bulling- Schröter. Die Energieversorgung als grundlegendes Element der Daseinsvorsorge sei durch die Rechtslage für hunderttausende Menschen in Deutschland nicht gesichert. Für schutzbedürftige Personen wie Kinder, Alte und Kranke solle ein Verbot von Energiesperren per Gesetz verankert werden, forderte die Politikerin.

Experte: Offizielle Armutsstatistik „unseriös und schwachsinnig“

Unterdessen übt der Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik Walter Krämer scharfe Kritik an der offiziellen Armutsstatistik in Deutschland. Wie dort Armut gemessen wird, sei „unseriös und schwachsinnig“, sagte Krämer dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (Donnerstag). „Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema befasst“, nehme die offizielle Statistik noch ernst, so der Wissenschaftler der Technischen Universität Dortmund.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband und andere Sozialverbände stellen an diesem Donnerstag in Berlin ihren Armutsbericht vor. Ihnen wirft der Statistikexperte vor, kein Interesse an der tatsächlichen Entwicklung in Deutschland zu haben. „Dabei käme nämlich heraus, dass Armut seit Jahren sinkt“, so Krämer.

Wer seriös herausfinden wolle, wie sich Armut entwickele, müsse sie an Notlagen festmachen, betonte der Statistiker. „Mit bloßen Prozentwerten, die sich am allgemeinen Einkommen orientieren, kommt man nicht weiter.“ Man müsse Bedarfe festlegen, Warenkörbe erstellen und alles regelmäßig aktualisieren. Das sei anstrengend und aufwendig; „schon deswegen macht das keiner“, kritisierte Krämer.

Unterdessen warnt der Bundesverband Volkssolidarität vor wachsender Altersarmut in Deutschland. Sie sei schon heute ein ernstzunehmendes Problem, sagte Verbandspräsident Wolfram Friedersdorff dem RedaktionsNetzwerk. In den ostdeutschen Bundesländern sei die gesetzliche Rente „für fast alle die einzige Einnahmequelle im Alter“. Friedersdorff weiter: „Wenn das Rentenniveau weiter nach unten geschraubt wird, haben die Menschen nichts, womit sie diese Lücke stopfen könnten.“ Altersarmut sei damit „programmiert“.

Die mobile Version verlassen