Kritik unerwünscht: Erdogan lässt türkische Unis „säubern“

Von Ömer Erzeren, Istanbul

Professorin Zeynep Sayin
Privat

Professorin Zeynep Sayin

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An türkischen Unis läuft eine Hexenjagd gegen Regierungsgegner. Inzwischen reicht schon Denunziation für das Ende der akademischen Laufbahn. Professorin Sayin hat erlebt, wie schnell das gehen kann.

Professorin Zeynep Sayin kann sehr schön und herzhaft lachen. „Wir können doch das Stasimuseum in Berlin besuchen“, schlägt sie schelmisch vor. Die Hochschullehrerin wird wohl nie wieder an einer türkischen Universität lehren können.

Zuletzt hatte sie im Sommersemester am Institut für Kommunikationswissenschaften der Bilgi-Universität ein Seminar zur „Anthropologie des Bildes“ gehalten. Ausgangspunkt des Seminars waren Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan.

Doch sie nahm auch auf zeitgeschichtliche Ereignisse Bezug – und das wurde ihr zum Verhängnis.

Bei der Gründung der Republik sei es den Türken darum gegangen, vom Westen begehrt zu werden, dozierte sie. Das Projekt sei gescheitert und nun stehe die Identifizierung gegen die Sprache des Westens und ein Rückgriff auf das Osmanische Reich an. Es ging um türkische Identität und Minderwertigkeitskomplexe. Irgendwann fiel der Name des türkischen Staatspräsidenten Erdogan. „Ich Trottel“, sagt Sayin heute.

Screenshot (657)

„Professorin mit Kloaken-Maul“

Aus dem Kontext gerissene, zusammenmontierte Mitschnitte des Seminars kursierten im Internet und in Windeseile war Sayin in den Zeitungen und im Fernsehen zu trauriger Berühmtheit gelangt.

Universitätsgebäude in Istanbul
REUTERS

Universitätsgebäude in Istanbul

„Professorin mit Kloaken-Maul“ titelte die regierungstreue Zeitung „Yeni Akit“. Sie beleidige den Staatspräsidenten und die türkische Nation. Sie sei eine heimliche Missionarin, die ihren Studenten die Bibel als Leselektüre empfehle. Die mediale Lynchjustiz zeigte Wirkung: Ohne sie selbst anzuhören, teilte die Universitätsleitung in einer Presseerklärung mit, dass sie „jegliche Beziehung zu dieser Lehrkraft auf Lohn-Stunden-Basis“ aufgelöst habe.

„So ist es um die Freiheit von Lehre und Forschung bestellt – ein kritisches Wort, eine Denunziation und Aus“, sagt Sayin und zitiert Hölderlins Chorverse in der Nachdichtung von „Antigone“ des Sophokles: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch.“

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Es kam schlimmer

Sayin ist kein Einzelfall. Sowohl staatliche als auch private Stiftungsuniversitäten wollen es der herrschenden Politik recht machen und sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, kritische Geister aus den Unis zu entfernen.

Im Januar unterzeichneten über tausend Hochschullehrer eine Deklaration, die das Vorgehen der Sicherheitskräfte in den kurdischen Regionen gegen Zivilisten anprangerte. In dem Papier forderten sie die politisch Verantwortlichen dazu auf, zum Dialog und zu Friedensgesprächen zurückzukehren. Die Soziologin Hilal Alkan von der Universität des 29. Mai gehört zu den Unterzeichnern. „Ich habe unterzeichnet, weil die Türkei vor einem Abgrund steht. Warum darf man nicht Dialog und Kompromiss einfordern?“ fragt sie. Die Dozentin rechnete mit einem universitären Disziplinarverfahren.

Als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Zusammenhang mit der Deklaration von „Landesverrat“, von einer „Bande sogenannter Akademiker“ und „niederträchtigen Typen“ sprach, ahnte sie, dass es schlimmer kommen würde.

Hunderte Disziplinarverfahren

Einzelne Unterzeichner wurden in den regierungsfreundlichen Medien als „Hurensöhne“, „perverse Lesben“ und „PKK-Liebhaber“ diffamiert. Vier Tage nach Veröffentlichung des Appells erhielt Alkan die fristlose Kündigung. Als dann einige Akademiker festgenommen wurden, bekam sie Angst. Jetzt packt Alkan die Koffer. Zum Wintersemester beginnt sie ein einjähriges Stipendium am Forum Transregionale Studien, einer Forschungseinrichtung der Berliner Universitäten.

Mittlerweile sind wegen des Friedensappells Dutzende Akademiker entlassen worden, gegen 513 laufen Disziplinarverfahren. Die Universitäten in der Türkei sind hierarchisch organisiert. Die Rektoren werden vom Staatspräsidenten ernannt. Ihnen allen steht der Hochschulrat vor, über dessen Besetzung die Politik entscheidet.

Unmittelbar nach der Deklaration forderte der Hochschulrat alle Universitätsleitungen auf, gegen die Unterzeichner vorzugehen. Einzelne Rektoren weigerten sich jedoch. Mit einem neuen Gesetz will die Regierungspartei deshalb den Hochschulrat ermächtigen, künftig Disziplinarverfahren einzureichen und Entlassungen vorzunehmen.

Originalausgabe der Verfassung vom 11. August 1919

Originalausgabe der Verfassung
vom 11. August 1919

 

Originalausgabe der Verfassung                                                                                             vom 11. August 1919

 

Für den 20. Juli hat der Hochschulrat 46 Unterzeichner nach Ankara einbestellt, um über sie zu urteilen. Es steht in seiner Macht, die Hochschullehrer zeitlebens von jeglicher Universität in der Türkei zu verbannen. Weitere 2000 Akademiker, die mittlerweile die Deklaration unterzeichnet haben, könnten folgen.

Quelle: Spiegel-online vom 10.07.2016

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