„Schwarzfahren“ ist eine in der NS-Zeit kreierte Straftat

Leipzig/Berlin (ADN). Den Argumenten eines angeklagten „Schwarzfahrers“ entzogen sich Richter und Staatsanwältin am Mittwoch im Amtsgericht Leipzig auf billige Weise. Der Beschuldigte hatte auf die komplizierte Rechtsmaterie und den bestehenden erheblichen Beweismangel hingewiesen. Trotz falscher Namensangaben auf Kontrollbelegen und in der Anklageschrift wurde der angebliche Schwarzfahrer, dem außerdem ein Rechtsbeistand verweigert wurde, zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt.

„Schwarzfahren“ heißt in der Juristensprache „Leistungserschleichung“ und wurde pikanterweise im Jahr 1935 – also in tiefsterer nationalsozialistischer Zeit – in den Rang eines Straftatbestandes erhoben. Darauf beharrt das bundedeutsche System bis in die Gegenwart, obwohl diese Delikte inzwischen die Justiz blockieren. Im Übrigen wurde von den Siegermächten jedwede Nazi-Gesetzgebung ein für alle Male für ungültig erklärt.

Deutschlandweit wurden im Jahr 2012 bei der Polizei 253.312 dieser Delikte angezeigt. Dieser eigentlich „niedrigschwellige Normverstoß“, dessen Hochburgen Dortmund, Frankfurt am Main und Karlsruhe sind, bremst nach den Worten einer Richterin aus Berlin-Neukölln die Gerichte zunehmend aus. 25 bis 30 Prozent aller Gerichtsverfahren gegen Erwachsene betreffen diesen Sektor, der auch die Gefängnisse füllt. Von knapp 500 Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee ist ein Drittel „schwarz gefahren“. Allein drei nicht gekaufte Fahrscheine lösen Kosten von 3.000 Euro für Strafverfolgung und nochmals 3.000 Euro für eine Inhaftierung aus. Die Richterin  beklagt, manchmal sieben bis acht Fälle pro Tag bearbeiten zu müssen. Ihre Empfehlung lautet, „Schwarzfahren“ nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln oder Hartz-IV-Empfänger gratis fahren zu lassen. Das würde in der Justiz unglaubliche Kräfte freisetzen. Inzwischen gewinnt diese Idee an Zugkraft. Die Linkspartei hat zu Beginn dieses Jahres einen Antrag im Deutschen Bundestag eingebracht, die „Leistungserschleichung“ nicht mehr als strafbar einzuordnen. Sie schlägt eine bundesweit flächendeckende Ausgabe von Sozialtickets vor. ++ (ju/mgn/17.08.16 – 222)

Quelle: Nachrichtenagentur ADN (SMAD-Lizenz-Nr. 101 v. 10.10.46) vom 17.08.2016

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