Flüchtlinge im Unterricht: Aufgefangen, durchgehangen

 

Aufgezeichnet von Heike Klovert

Vorbereitungsklasse in Stuttgart: Bald fit für den normalen Unterricht

DPA

Vorbereitungsklasse in Stuttgart: Bald fit für den normalen Unterricht

Flüchtlingskinder haben das Recht, eine Schule zu besuchen. Doch es ist oft nicht leicht, sie in den Unterricht zu integrieren. Zwei Lehrerinnen erzählen, wie es gut laufen kann – und schlecht.

Sie haben den Kopf oft voller grausamer Bilder von Gewalt und Flucht. Und voller Fragen: Wo bin ich gelandet? Wie geht es mit mir weiter?

Manche können weder lesen noch schreiben. Oder nur in einer anderen Schrift. Und nun sollen sie in diesem fremden Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, zur Schule gehen. Flüchtlingskinder in den Unterricht einzubinden, ist für alle eine Herausforderung.

Viele Schulen sind gut vorbereitet auf ausländische Kinder: mit Vorbereitungsklassen oder Sprachlernklassen, mal schulintern, mal schulübergreifend. Manche nehmen seit vielen Jahren Flüchtlinge auf.

Doch auch dort, wo die Integration gut funktioniert, stoßen Lehrer, Rektoren, Schulämter inzwischen an ihre Grenzen. Denn die Zahl der Flüchtlinge, die monatlich nach Deutschland kommen, ist auf einen neuen Höchststand geklettert. Die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Marlies Tepe, forderte deshalb: „Die Länder müssen dringend mehr Lehrerinnen und Lehrer fortbilden in Deutsch als Zweitsprache und in interkultureller Bildung.“

In allen Bundesländern haben Flüchtlingskinder generell das Recht, die Schule zu besuchen. Die Schulämter verteilen die Kinder in der Regel auf die Schulen, sobald diese die Notunterkunft verlassen haben und einer Kommune zugewiesen wurden.

Hier erzählen zwei Lehrerinnen, was danach kommt – im guten und im schlechten Fall:

Ulrike Lindzus

„Die Kinder sind eine Bereicherung für unsere Schule“

Maria Schönau

„Der Abstand war einfach zu groß“

Ulrike Lindzus, 59, koordiniert seit fast 15 Jahren die Auffangklassen an der Hauptschule Scharnhorst in Dortmund.

„Die ersten Tage sind für die Kinder stressig und für uns auch. Sie verstehen noch gar kein Deutsch, manche sind ängstlich, die meisten sind sehr zurückhaltend. Eine Schülerin aus Syrien war so nervös, dass sie sich anfangs dauernd die Nase geputzt hat, obwohl sie nicht erkältet war. Wenn die Kinder lernen, sich zu verständigen, erfahren wir nach und nach, was sie durchgemacht haben.

Die neuen Kinder kommen in unsere Auffangklassen, wo sie zwei Jahre lang auf den normalen Unterricht vorbereitet werden. Die drei Klassen sind mit insgesamt 54 Schülern auch dieses Schuljahr wieder voll ausgebucht. Seit etwa drei Jahren kommen deutlich mehr Flüchtlinge und Migranten an unsere Schule, vor allem aus Syrien, Polen, Spanien, Griechenland, jetzt auch aus Eritrea und Sri Lanka.

Die Kinder sind motiviert, sie wollen Deutsch lernen, sie brauchen die Sprache ja. Wir unterrichten sie in Deutsch, Mathe, Englisch, Physik, Erdkunde, Bio, Kunst und Sport, aber in den meisten Fächern geht es erst mal darum, die Sprache zu lernen. Wer noch gar kein Deutsch kann, kommt in die Anfängerklasse, egal wie alt er ist. Manche Schüler können noch nicht einmal lesen und schreiben. Für diese Schüler gibt es in Dortmund inzwischen Alphabetisierungsklassen.

Es ist wichtig, dass die Kinder intensiv betreut werden. Es reicht nicht, sie von Anfang an in die Regelklassen zu setzen und sie nur zwei Stunden am Tag zusätzlich zu fördern. Vor allem in der Anfängerklasse unterrichten nach Möglichkeit zwei Lehrer gleichzeitig.

In unseren Regelklassen sitzen viele internationale Kinder, die auch in einer Auffangklasse begonnen haben und die uns helfen zu übersetzen, wenn ein neuer Schüler oder seine Eltern kein Deutsch sprechen. Von Anfang an haben die Auffangschüler mit den Regelschülern gemeinsam Sport. Manche Kinder gehen zwischendrin auch schon mal in den normalen Unterricht, damit sie ihre zukünftige Klasse besser kennenlernen.


Die Auffangklassen gibt es an der Hauptschule Scharnhorst seit etwa 30 Jahren. Die ausländischen Kinder sind eine Bereicherung für unsere Schule. Viele von ihnen sind sehr motiviert und sehr gut, nur die fremde Sprache steht ihnen im Weg. Ein polnisches Mädchen war dermaßen gut, dass wir sie bald aufs Gymnasium geschickt haben. Einige Schüler wechseln später in die Gesamtschule, um Abitur zu machen.

Manchmal kommt es wegen der kulturellen Unterschiede zu Missverständnissen. So klingelte einmal im Unterricht das Handy einer Schülerin. Meine Kollegin forderte sie auf, ihr das Handy für diesen Morgen auszuhändigen, da Handys im Unterricht nicht eingeschaltet sein dürfen. So lautet eine Schulregel. Das Mädchen weigerte sich und begann verzweifelt zu weinen. Später stellte sich heraus, dass ihre Gebetszeit auf dem Handy eingestellt war. Die Schülerin hatte Angst, eine Sünde zu begehen, wenn sie ihr Handy abgibt.


Auch der Umgang mit manchen Eltern ist hin und wieder ungewohnt. Einmal wollte der Onkel einer Schülerin mir zum Abschied nicht die Hand geben. Er erklärte mir, dass damit keinerlei Missachtung verbunden sei, sondern dass er damit in seiner Kultur Respekt vor der Frau ausdrücke. Auch dieses Erlebnis ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, sich verständigen zu können, um gegenseitige Vorurteile zu vermeiden.

Wenn sich die Schüler untereinander noch nicht so gut kennen, kommt es manchmal zu Spannungen. Ein marokkanisches Mädchen wurde einmal von anderen Auffangschülern beschimpft, weil sie sich freizügiger anzog, als es diese Schüler gewohnt waren. Doch sobald sich die Kinder näher kennenlernen, hört so was auf. Der Zusammenhalt in den Auffangklassen ist gut, denn alle können verstehen, wie es sich anfühlt, fremd zu sein.“

Maria Schönau (Name geändert), 60, unterrichtet an einer Grundschule in Rheinland-Pfalz, in einer Kleinstadt mit knapp 20.000 Einwohnern.

„Im vergangenen Schuljahr saß ein somalischer Junge fünf Monate lang in meiner dritten Klasse. Er war seit fast einem Jahr in Deutschland und machte die dritte Klasse schon zum zweiten Mal. Die Schulleitung hatte ihn, wie es üblich ist, seinem Alter gemäß eingestuft. Er war wissbegierig, aber es fehlten ihm alle Grundlagen der ersten beiden Schuljahre, er konnte weder lesen noch schreiben.

Jede Woche hatte er drei Förderstunden, in denen wechselnde Kollegen ihn unterrichteten, aber das war viel zu wenig. Und wenn der entsprechende Lehrer eine Vertretungsstunde halten musste, fiel die Förderstunde aus. Außerdem fehlte ein Konzept, von jedem Kollegen lernte der Junge etwas anderes. Nach eineinhalb Jahren an unserer Schule konnte er die meisten Buchstaben zwar erkennen. Aber lesen und schreiben konnte er immer noch nicht.

Er war in meiner Klasse sehr schüchtern, doch einmal taute er auf. In einer Förderstunde übte ich mit ihm Wörter wie ‚Bruder‘, ‚Schwester‘, ‚Mutter‘. Gemeinsam malten wir seine Familie als große Sonne auf ein Blatt Papier: In der Mitte ihn und drumherum seine neun Geschwister. Er erzählte mit Gesten und wenigen Worten, dass er mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen sei. Eine seiner Schwestern und ihr Baby wollten mit dem Schiff kommen. Sie überlebten die Überfahrt nicht.

Die anderen Schüler mochten den Jungen, sie spielten in den Pausen mit ihm Fußball. Im Unterricht in einer dritten Klasse ist es jedoch nicht zu schaffen, einem Kind nebenbei Lesen und Schreiben beizubringen. Als Lehrer lernt man ja zu differenzieren, aber der Abstand war einfach zu groß. Wir haben auch zwei syrische Kinder, die gut mithalten. Sie waren in Syrien schon in der Schule, sie konnten lesen und schreiben. Und sie bekommen Hilfe von zu Hause, das macht sehr viel aus.

Ich war dafür, den somalischen Jungen in die erste Klasse zurückzustellen. Doch damit war die Schulleitung nicht einverstanden. Schließlich kam er in der zweiten Schuljahreshälfte in die zweite Klasse. Dort geht es ihm besser, er hat mehr Zeit und Ruhe, um aufzuholen. Er ist selbstbewusster geworden und kann dem Unterricht nun meistens folgen.

Vielleicht sind große Städte besser auf Flüchtlinge vorbereitet als unsere ländliche Kleinstadt? Unsere Schule hat guten Willen, aber mit dem jetzigen Personal ist es auch so schon knapp. Für unsere Schule allein würde sich keine Vorbereitungsklasse lohnen, wir haben nur etwa ein halbes Dutzend Flüchtlingskinder. Dafür müssten sich alle Grundschulen im Umkreis zusammentun. Ich hoffe, das geschieht bald, denn es kommen ja noch mehr Flüchtlinge.“

Quelle: Spiegel-online vom 11.09.2015

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