Der Ärger mit Tinnitus

06.07.2016
Dr. Joseph Mercola

Tinnitus, das chronische Klingeln im Ohr, trifft immer mehr junge Menschen – vermutlich wegen der permanenten Lärmberieselung. Tinnitus-Patienten zeigen Anzeichen von Schäden an den Hörnerven, die möglicherweise Hörproblemen vorausgehen.



Eine von fünf Personen leidet unter chronischen Ohrgeräuschen. Tinnitus an sich ist normalerweise harmlos, kann aber die Lebensqualität enorm beeinträchtigen und im Lauf der Jahre immer schlimmer werden. Und er kann ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung wie altersbedingtem Hörverlust, Ohrverletzungen oder einer Kreislaufstörung sein.1

In den meisten Fällen wird Tinnitus nach dem 50. Lebensjahr diagnostiziert, aber jüngste Studien zeigen, dass er auch unter Jugendlichen überraschend häufig vorkommt. Die Anzahl der jungen Betroffenen steigt zudem – vermutlich aufgrund der ständigen Berieselung mit lauter Musik und anderen Umweltgeräuschen.2 Schlimmer noch ist, dass Tinnitus auch ein Anzeichen für dauerhafte Nervenschäden sein kann, die Hörproblemen vorausgehen.

Ein Viertel der Jugendlichen bekommt Tinnitus und riskiert damit, in späteren Jahren das Hörvermögen zu verlieren

In einer Studie mit 170 Schülern zwischen 11 und 17 Jahren stellten Forscher der McMaster University in Kanada »riskantes Hörverhalten« fest: Laute Beschallung auf Partys und Konzerten, Musikhören mit Kopfhörern sowie Handygebrauch waren die Norm.

Über die Hälfte der Probanden berichteten, schon einmal Tinnitus gehabt zu haben, etwa in Form von Ohrenklingeln am Tag nach einem lauten Konzert. Während dies noch als Warnzeichen gilt, litten fast 29 Prozent der Schüler bereits an chronischem Tinnitus, wie eine psychoakustische Untersuchung in der schalldichten Kabine ergab.3

Jugendliche mit und ohne Tinnitus hatten ein ähnliches Hörvermögen, aber bei jenen mit Tinnitus war die Toleranz für laute Geräusche deutlich niedriger, und sie waren eher darauf bedacht, ihre Ohren zu schützen. Reduzierte Lautstärketoleranz ist ein Zeichen für Schäden an den Hörnerven, denn wenn Nerven, die Geräusche übertragen, beschädigt sind, werden die Gehirnzellen empfindlicher gegen Lärm, wodurch Geräusche lauter erscheinen, als sie sind.

Vorbeugung ist die beste Maßnahme gegen Tinnitus

Verletzungen der Hörnerven, die mit Tinnitus und erhöhter Empfindlichkeit gegen Lärm assoziiert werden, können nicht bei normalen Hörtests entdeckt werden. Deshalb werden sie zuweilen »verborgener Hörverlust« genannt. Zudem sind solche Schäden dauerhaft und neigen dazu, sich im Lauf der Zeit zu verschlimmern und später im Leben zu Hörverlust zu führen.

Da es keine bekannte Therapie gibt, ist Vorbeugung die beste Maßnahme. Studienautor Dr. Larry Roberts von der Fakultät für Psychologie, Neurowissenschaften und Verhaltensforschung der McMaster University vergleicht die Risiken durch Lärm mit frühen Warnzeichen bei Rauchern.



Viele Menschen sind sich nicht darüber bewusst, dass das Hören lauter Musik durch Ohrhörer oder auf Partys ihr Gehör dauerhaft schädigen kann, insbesondere weil sie ja zu dieser Zeit noch ganz normal hören. Wenn sich mehr Leute der Risiken bewusst wären, würden mehr etwas unternehmen und etwa die Lautstärke herunterdrehen, ihren Ohren eine Pause zu gönnen. Gegenüber Science Daily sagte Roberts:4

»Es ist ein wachsendes Problem, und ich fürchte, es wird noch schlimmer werden … Meine persönliche Meinung ist, dass Hörprobleme sich wohl zu einem großen allgemeinen Gesundheitsproblem auswachsen werden …

Der Lärmpegel, der in unserer Umgebung gang und gäbe ist, besonders unter jungen Leuten, kann offensichtlich verborgene kochleare Verletzungen verursachen (in der Innenohrschnecke)… Die Message muss lauten: Schützt eure Ohren!«

Tinnitus steht mit psychiatrischen Störungen und Stress in Zusammenhang

Unter den erwachsenen Tinnitus-Patienten leidet die Mehrheit (77 Prozent) zugleich unter psychiatrischen Problemen – von Ängsten bis zu Persönlichkeitsstörungen. 62 Prozent haben depressive Störungen und 45 Prozent Angststörungen.5 Darüber hinaus scheint es einen engen Zusammenhang zwischen Tinnitus und Stress zu geben: Stress kann Tinnitus verstärken, dasselbe gilt umgekehrt. Eine Studie erkannte emotionale Erschöpfung – das Gefühl, durch anhaltenden Stress ausgelaugt zu werden – als Vorbote von Tinnitus.6

Chronischer Stress könnte für die Entwicklung von Tinnitus ebenso förderlich sein wie berufsbedingter Lärm. Forscher fanden heraus, dass sowohl sehr stressige Situationen als auch berufsbedingter Lärm das Tinnitusrisiko verdoppeln.7 Zudem spielt Stress insbesondere eine Rolle, wenn aus einem milden Tinnitus schwerer Tinnitus wird. Die Wissenschaftler folgern: »Programme zur Erhaltung des Hörvermögens sollten Methoden des Stressmanagements beinhalten, insbesondere für Menschen mit mildem Tinnitus, die einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind.«8

Zu erwähnen ist auch, dass Personen mit Tinnitus die Ohrgeräusche in stressigen Phasen im Leben bemerken, etwa bei einer Scheidung, bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheitsfällen in der Familie, Unfällen oder Operationen. Im Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry (JNNP) ist zu lesen:9

»Solche Ereignisse können die Erregung im Gehirn erhöhen, und der Tinnitus kann kortikal [über die Hirnrinde] wahrgenommen werden. Dieses Zusammenspiel von reduzierter Hörempfindung und Kompensierung im Gehirn könnte erklären, warum manche Menschen sehr unter ihrem Tinnitus leiden und andere sich einfach daran gewöhnen.«

Die Wissenschaftler vermuten, dass Tinnitus nicht nur das auditorische System betrifft, sondern eher neuropsychiatrische Ursachen hat. Das würde erklären, warum er häufig gleichzeitig mit kognitiven und behavioristischen Symptomen auftritt.

Auch Schlafprobleme, Traumata, Kopfschmerzen usw. stehen mit Tinnitus in Zusammenhang

Tinnitus wird häufig nicht als eigenständige Erkrankung, sondern als Symptom beschrieben, das von unterschiedlichsten Leiden herrühren kann, etwa einem Schädel-Hirn-Trauma – fast 40 Prozent von Armeeangehörigen mit Schädel-Hirn-Trauma leiden unter Tinnitus.10

Tinnitus tritt auch häufig bei Schmerzstörungen und Kopfschmerzen – auch bei Migräne – auf und führt oftmals zu Schlafstörungen wie Einschlaf- und Durchschlafproblemen sowie chronischer Erschöpfung. Zudem steht Tinnitus auch mit kognitiven Störungen in Zusammenhang, etwa mit beeinträchtigter geistiger Verarbeitungsgeschwindigkeit und Aufmerksamkeitsstörungen.11

Es gibt auch unterschiedliche Arten von Tinnitus, und die spezielle Form kann ein Hinweis auf den Ursprung geben. Beispielsweise kann Tinnitus in einem oder in beiden Ohren auftreten, und auch die wahrgenommenen Geräusche unterscheiden sich:12

  • Hohe, dauerhafte Töne sind am meisten verbreitet.
  • Summen und Brummen.
  • Pochende oder pulsierende Geräusche können auf einen Gefäßtumor in der Nähe des Ohrs hindeuten.
  • Klickende Geräusche können von Muskelzuckungen im Gaumen hervorgerufen werden, wodurch sich die Eustachische Röhre im Ohr öffnet und schließt; auch Kiefergelenksprobleme können klickende Geräusche im Ohr verursachen.



Auch anomales Knochenwachstum im Mittelohr, Otosklerose, kann Tinnitus auslösen, ebenso Schäden am Hör-Gleichgewichtsnerv, der Töne vom Ohr ans Gehirn leitet. Solche Schäden können z. B. von einem Tumor am akustischen Neurom oder von Medikamententoxizität verursacht werden. Bestimmte Arzneistoffe, darunter einige Krebsmedikamente, Sedativa und Entzündungshemmer wie Ibuprofen und Aspirin können ebenfalls Tinnitus hervorrufen.

Falls die Ohrgeräusche Sie stark emotional oder psychisch belasten, suchen Sie nach professioneller Hilfe. In vielen Fällen können aber auch natürliche Methoden wie die im Folgenden beschriebenen helfen.

Effektive Tinnitus-Therapien

Viele Pharmazeutika, darunter Antidepressiva, Angstlöser, Stimmungsaufheller und Krampflöser, werden gegen Tinnitus eingesetzt. Laut einer Metaanalyse zahlreicher Tinnitus-Therapien haben lediglich Antidepressiva möglicherweise eine leichte Wirkung, aber selbst diese Studie kam nicht zu dem Schluss, dass Antidepressiva die Lösung seien.13

Angesichts der Risiken und der Tatsache, dass manche Antidepressiva sogar Ohrgeräuscheverursachen können, sind medikamentenfreie Optionen die bessere Wahl – und davon gibt es einige.14

In vielen Fällen können natürliche Maßnahmen helfen, beispielsweise:

  • Kognitive Verhaltenstherapie: verbessert nachweislich die Lebensqualität von Tinnitus-Patienten.15 Sogar eine übers Internet angeleitete Kognitive Verhaltenstherapie hat sich als effektiv erwiesen.16
  • Akupunktur: mildert die Ohrgeräusche und verbessert die Lebensqualität.17
  • Nahrungsergänzungsmittel, pflanzliche Heilmittel und Melatonin: Insbesondere Zink- und Vitamin-B12-Mangel werden mit Tinnitus assoziiert.18,19 Pflanzliche Mittel wie Japanische Kornelkirsche, Hartriegel, Wachsmyrte, Weißdornblatt, Ginkgo und Wanzenkraut können ebenfalls hilfreich sein.20
    In Tierstudien führte Ginkgo-Extrakt zu deutlichen Verbesserungen bei Tinnitus, in manchen Fällen sogar zur völligen Heilung.21 Melatonin scheint ebenfalls vielversprechend – in einer Studie führte bei Patienten mit chronischem Tinnitus die Verabreichung von Melatonin zu einer deutlichen Linderung der Tinnitus-Intensität und verbesserter Schlafqualität.22
  • Schwarzer Bio-Kaffee: Wissenschaftler wiesen nach, dass Frauen, die mehr Koffein (zumeist als Kaffee) konsumierten, weniger zu Tinnitus neigten.23
    Besonders Frauen, die weniger als 150 mg Koffein (das entspricht ca. 350 ml Kaffee) am Tag konsumierten, hatten ein um 15 Prozent höheres Tinnitus-Risiko als Frauen, die 450 bis 599 mg zu sich nahmen.24 Die Forscher waren sich nicht sicher, warum Koffein das Tinnitus-Risiko senkt, aber frühere Studien zeigten, dass er direkt auf das Innenohr wirkt oder durch seine stimulierende Wirkung aufs zentrale Nervensystem vor Tinnitus schützen könnte.
  • Stressmanagement: Auch mit Sport, Entspannungsmethoden und den »Emotional Freedom Techniques« (EFT) kann man Tinnitus vorbeugen und behandeln.

Einfache Hausmittel gegen Tinnitus

Wenn Tinnitus Ihre Lebensqualität beeinträchtigt, können Sie mit einfachen Hausmitteln die Symptome lindern. (Und falls nicht: Schaden können Sie damit nicht anrichten.) Organic Factsempfiehlt folgende Hausmittel:25

  • Warmes Salzkissen: Füllen Sie einen Stoffbeutel mit warmem Salz und legen Sie abwechselnd ein Ohr auf dieses Kissen. Wärmen Sie das Salz wieder auf, falls nötig, und wiederholen Sie den Vorgang mehrmals täglich.
  • Knoblauchöl: Mixen Sie 6 frische Knoblauchzehen in eine Tasse Olivenöl (dabei wird der Knoblauch fein gehackt). Eine Woche ziehen lassen, dann das Öl durch ein Sieb gießen und immer wieder ein paar Tropfen in die Ohren geben.
  • Stimulierung des kleinen Zehs: Den Rand des kleinen Zehs nahe dem Zehennagel mit einem Zahnstocher stimulieren. Das sollte ein Kitzeln an der Zehenspitze auslösen. Einmal täglich ausgeführt, kann dies Tinnitus lindern.
  • Kiefermassage: Massieren Sie mit Kokos- oder Sesamöl die Aushöhlung und die Kieferknochen hinter Ihren Ohrläppchen. Auch auf diesen Bereich gelegte warme Kompressen können für Linderung sorgen.
  • Fußbäder: Stellen Sie Ihre Füße abwechselnd in warmes und kaltes Wasser. Das weitet die Blutgefäße und stimuliert den Blutstrom zum Herzen, wodurch Tinnitus-Symptome gemildert werden.
  • Musik: Sanfte, beruhigende Musik, weißes Rauschen, Naturgeräusche oder sogar Summen können Tinnitus lindern.
  • Ohrtrommeln: Klopfen Sie zweimal täglich für zwei, drei Minuten mit den Fingerspitzen leicht auf jedes Ohr, um die Klingeltöne zu lindern.



Schützen Sie Ihre Ohren vor Lärm!

Es gibt zwar viele mögliche Ursachen für Tinnitus, Lärm ist aber einer der größten Übeltäter, insbesondere bei Jugendlichen. Es ist weit einfacher, gegen Ohrschäden vorzubeugen, als sie zu behandeln.

Die Weltgesundheitsorganisation gibt Teenagern und Jugendlichen folgende Tipps, um ihr Gehör zu schützen und gegen Hörverlust vorzubeugen (obgleich natürlich alle Altersgruppen sie befolgen sollten):

  • die Lautstärke bei allen Audiogeräten herunterdrehen,
  • gut passende Ohr-/Kopfhörer mit Rauschunterdrückung verwenden, mit denen man auch bei geringerer Lautstärke alles gut versteht,
  • die tägliche Nutzung von Audiogeräten auf höchstens eine Stunde beschränken,
  • eine Dezibel-App herunterladen, die warnt, wenn die Lautstärke eine schädliche Grenze erreicht,
  • die Dauer von geräuschintensiven Beschäftigungen eingrenzen,
  • auf lauten Veranstaltungen (oder beim Arbeiten mit lärmintensiven Geräten wie Rasenmäher oder Laubbläser) Ohrschützer tragen,
  • bei der Nutzung von Audiogeräten regelmäßig Pausen einlegen.

Verweise

 

Mayo Clinic Tinnitus

2, 5, 9, 10, 11 Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 2014;85(10):1138–1144

Scientific Reports, 6. Juni 2016

Science Daily, 6. Juni 2016

Psychother Psychosom. 2012;81(5):324–326. E-Publikation, 1. August 2012

7, 8 Ear Hear, November–Dezember 2011;32(6):787–789

12 Medicine Net

13 Laryngoscope, Juli 2011;121(7):1555–1564

14 Mayo Clinic, Tinnitus Causes

15 Clin Psychol Rev., Juni 2011;31(4):545–553

16  Psychother Psychosom., 2014;83(4):234–246

17 J Res Med Sci., September 2011;16(9):1217–1223

18 Am J Otolaryngol., März–April 2015;36(2):230–234

19 Noise Health, März–April 2016;18(81):93–97

20 Am J Chin Med. 2009;37(4):735–746

21 PLoS One, 17. Juni 2016;11(6):e0157574

22 Ann Otol Rhinol Laryngol., Juli 2011;120(7):433–440

23 American Journal of Medicine, August 2014

24  Medicine Net, 8. August 2014

25 Organic Facts

Quelle: Kopp-online vom 06.07.2016

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