Klagewelle in der Türkei und warum Böhmermann vermutlich deswegen freigesprochen wird

Kopp Verlag


Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/static/209114138 (CC BY-SA 2.0)
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/static/209114138 (CC BY-SA 2.0)

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Der Klagerausch in dem sich der türkische Staatspräsident Recep Erdogan befindet, wirkt auf viele Beobachter absurd bis albern. Fast 2.000 türkische Bürger werden von Erdogan wegen angeblicher Beleidigung seiner Hoheit bereits verklagt. Nun hat es auch den führenden türkischen Oppositionspolitiker Kemal Kilicdaroglu (CHP) erwischt. Der Fall hat das Potenzial der Verteidigung von Jan Böhmermann in die Hände zu spielen.

Auch nachdem die Bundesregierung den Forderungen des türkischen Präsidenten nachgekommen ist und ein Strafverfahren gegen Jan Böhmermann wegen „Majestätsbeleidigung“ zugelassen hat, stehen dessen Chancen alles andere als schlecht. Grund ist Erdogans eigenes Verhalten bei Meinungsverschiedenheiten.

Insgesamt 1.845 Klagen führt der türkische Präsident Recep Erdogan gegen Menschen, von denen er sich beleidigt fühlt. Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann ist da nur das prominenteste Beispiel. In der Türkei selbst, kann es mittlerweile jeden treffen: Journalisten natürlich, aber auch Ärzte, Lehrer, ganz normale Bürger, sogar Kinder.

Das alles sorgt längst nicht mehr für Schlagzeilen. Große Aufmerksamkeit genießt in türkischen Medien derzeit aber die Auseinandersetzung des Oppositionspolitikers der kemalistischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, mit dem klagefreudigen Präsidenten. Auch Kilicdaroglu reiht sich nun in die der juristisch Verfolgten ein. Doch was war geschehen?

Zunächst – auch das ist für die Beweisaufnahme im Fall Böhmermann eventuell relevant – erschütterte Anfang April dieses Jahres ein Kindesmissbruchsbrauchskandal die AKP-nahe Ensar-Stiftung. Die Rede ist von 45 Fällen, in denen sich ein Lehrer an Kindern verging.

Äußerst ungemütlich für Erdogans AKP, die in Person von Familienministerin Sema Ramazanoglu seit dem versucht, die parlamentarische Aufarbeitung des Falles zu unterdrücken. Oppositionsführer Kilicdaroglu verurteilte dies am 5. April scharf und sagte Ministerin Ramazanoglu habe sich „vor die Stiftung gelegt“.

Obwohl die Wortwahl in etwa dem deutschen „sich vor jemandem stellen“ gleichkommt, versuchte die AKP daraufhin einen sexuellen Unterton in Kilicdaroglus Worte zu interpretieren. Dieser würde eine ehrbare muslimische Frau beleidigen, hieß es.

Nun schlug die Stunde Erdogans. Laut Kilicdaroglu beleidigte dieser ihn einen Tag später als Perversen, was Erdogan selbst sogar am 9. April bei einer Veranstaltung in Istanbul zugab. Weiterhin – so Erdogan – sei der Oppositionsführer ein Fall für den Arzt und werde von der Regierung künftig als „nicht existent“ angesehen:

„Für uns ist diese Person [Kilicdaroglu] nicht existent. Das sage ich als Wähler, als der Bürger Erdogan […]. Diese Person ist ein medizinischer Fall, kein politischer. Ich habe gesagt, er ist ein ‚politisch Perverser‘.“

Kilicdaroglu reagierte indem er Erdogan seinerseits als „sexuellen und politischen Perversen“ bezeichnete. Weiterhin fügte er in Richtung des Präsidenten an:

„Du […] bist der Meister der Diebe. Niemand kann dir das Wasser reichen. Deine ganze Familie klaut, die ganze Familie.“

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Die Folge, die nun eingereichte Klage Erdogans gegen den CHP-Politiker überrascht natürlich wenig, der Hergang des Streits ist aus juristischer Sicht für den Fall Böhmermann allerdings äußerst interessant.

Denn da Erdogan politische Widersacher öffentlich als Perverse und Geisteskranke bezeichnet, ihnen gar ihr Menschsein abspricht, kann dieser sich – zumindest in Deutschland – selbst nicht auf das Recht berufen von solchen Schmähungen ausgenommen zu werden. Hervor geht dies aus dem Urteil taz vs. Kai Diekmann im Jahr 2002.

Der BILD-Chef hatte versucht die Tageszeitung zu verklagen, weil einer ihrer Redakteure ihm eine Penisverlängerung angedichtet hatte. Der Buchautor und ehemalige taz-Redakteur Mathias Broeckers dazu auf seiner Webseite:

„Mit “Schmähkritik” kenne ich mich ein wenig aus, weil ich als Redakteur der taz etliche solcher Verfahren erlebt habe – und die allermeisten wurden im Sinne der Presse,- Meinungs,- und Kunstfreiheit entschieden. Ein bahnbrechendes Urteil erstritt die taz 2002 gegen Kai Diekmann, dem Gerhard Henschel in der Zeitung eine Penisverlängerung angedichtet hatte –  eine eindeutige Schmähung, für die anderen Person mit Sicherheit ein Schmerzensgeld zugesprochen worden wäre. Ein “Bild”-Chef freilich, dessen Blatt permanent den Privat,- und Intimbereich von Menschen zur Schau stellt, müsse selbst eine solche Schmähung hinnehmen, befand das Gericht.“

Oder einfach ausgedrückt: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Nun sitzt Erdogan aber nachweislich im Glashaus. Eindeutig belegt sind die anrüchigen und persönlichkeitsverletztenden Schmähungen seitens des türkischen Präsidenten an Kilicdaroglu.

Für die Anwälte Böhmermanns wird es ein Leichtes sein, nachzuweisen, dass Erdogan dann eben auch eine andere Schmerzgrenze für seine eigene Person akzeptieren muss – genau wie Kai Diekmann.

Quelle: Russia Today (RT) vom 15.04.2016

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