Die Hölle von Nordhausen – 243 Lancaster-Maschinen legen Stadt in Schutt und Asche

Am 4. April 1945 machten britische Bomber die 1000-jährige Stadt am Harz dem Erdboden gleich





Dienstag, der 3. April 1945. Das Osterfest ist einen Tag vorbei. Beim „Südharzer Kurier“ im Königshof wird die neueste Ausgabe ausgehangen. Es ist die letzte.

Zur gleichen Zeit in High Wycombe, Großbritannien. Luftmarschall Harris betritt den unterirdischen Kartenraum des Hauptquartiers. Er begrüßt seinen Stellvertreter Air Vice Marshall Saundby und Magnus Spence, den Wetterfrosch des Bomberkommandos. Das Wetter über Mitteldeutschland lässt einen Luftangriff zu, sagt der Meteorologe. Und fällt damit das Urteil für eine kleine Stadt am Harz. Nordhausen.

Der Befehl anzugreifen, wird durchgestellt. Das Uhrwerk läuft, die Angriffsplanung beginnt. Kampfauftrag, Zeitplan, die zu tankende Mindesttreibstoffmenge für die Flugzeuge, Bombenzuladung, die Ausstattung mit Markierungs- und Beleuchtungsmitteln – all das ist im Gang. Motoren und Bordwaffen überprüft jeder Pilot selbst. Da ahnen die rund 42.000 Menschen in Nordhausen noch nichts.


Die Route der Bomber steht beim Abheben fest

Die Route der Bomber steht inzwischen fest. Geplanter Beginn des Angriffs: 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Ziel: die Boelcke-Kaserne. Sie ist aus Sicht der Briten ein militärisches Objekt, das ausgelöscht werden muss, um den Vormarsch der alliierten Truppen zu erleichtern. Nordhausen gilt zudem als Umschlagplatz für Truppen.

13 Uhr. Die ersten Maschinen heben ab, dann im Minutentakt die weiteren. Anders als erwartet, ist der Himmel über Nordhausen bewölkt. 16.11 Uhr setzen die Bomber rote Zielmarken über der Boelcke-Kaserne. Sie bleiben nutzlos.
Es muss nach Navigationshilfen, quasi blind, bombardiert werden. Weit verstreut gehen die todbringenden Geschosse nieder. 16.25 Uhr ist der Spuk vorbei. Die Stadt ist stark getroffen. Zerstörte Häuser, Tote. Und doch nichts im Vergleich zu dem, was wenig später geschehen soll.


17 Stunden nach dem Drama wiederholt sich die Zeremonie. Das Wetter ist gut, der Angriffsbefehl erteilt. Auf 9.15 Uhr legen die Briten den Termin fest. 5.57 Uhr hebt das erste Flugzeug ab. Von Marburg und Bad Hersfeld über Bad Salzungen kommen sie, dann drehen sie über Tabarz ab, fliegen über Gotha und Langensalza gen Harz. Das Ziel steht fest. Die ersten Bomben fallen wie geplant auf die Boelcke-Kaserne. In der ist aber kein Militär mehr, nein, Häftlinge des Konzentrationslagers Dora werden die ersten Opfer.

Dann greift der Hauptverband das Stadtzentrum an. Diesmal sehen die Flieger die Zielmarkierungen, darunter eine über dem Kornmarkt. Diesmal legen sie die Stadt in Schutt und Asche – in einer Schneise von Sundhausen über den Taschenberg gen Rathaus. Ungezielt entladen sie die Bomben im Reihenwurf. Bald können die Piloten zwar nur noch die Explosionswolken sehen, doch in die schießen sie hinein. 243 Lancaster-Maschinen. 93 gehen auf die Kaserne los, 150 auf das Stadtzentrum.



In 20 Minuten ist die Mission erfüllt. Die Menschen in der Stadt, darunter viele Flüchtlinge und Zwangsarbeiter, können sich kaum noch in Luftschutzräume retten. Schon am Vortag waren die Sirenen zerstört worden. Die Gebäude sind in Schutt und Asche gelegt, Brände entstehen. Um 23 Uhr notiert ein britischer Pilot auf dem Rückweg von einem Angriff auf Leuna, die Stadt stehe in Flammen.

Die hier geschilderten Ereignisse rekonstruierte in den 1990er-Jahren Walter Geiger in einer bemerkenswerten Detailgenauigkeit. Nach dem Studium zahlreicher Akten kommt er zu dem Schluss, dass sich die Brände nach Explosionen im Stadtgebiet ausbreiteten, aber die Briten keine Brandbomben abwarfen, ebenso kein Phosphor, wie einige Zeitzeugen noch heute meinen.

Sieben Tage nach dem Inferno besetzen die Amerikaner die Stadt.

Eine Schadensbilanz

Mehr als die Hälfte aller Betriebe existierte nicht mehr. Das Straßennetz und Straßenbahn waren zerstört. Alte Bauten verschwanden.

Im Nordhäuser Stadtmuseum, der Flohburg, ist zumindest ansatzweise nachzuvollziehen, was das Bombardement in der Stadt für einen Schaden anrichtete. Deformierte Gläser und Bestecke sprechen ihre eigene Sprache.


Völlig deformierte Einweckgläser lassen erahnen, welche Hitze sich nach dem Bombardement entwickelte. Foto: Roland Obst

Schon vier Jahre nach den schrecklichen Ereignissen zog die Stadt in einer Ausstellung Bilanz. Bis heute wird als offizielle Zahl genannt: 8800 Tote. Davon entfielen auf die ständige Bevölkerung 6000 Opfer, auf die nichtständige 1500, auf die Häftlinge des Konzentrationslagers in der Boelcke-Kaserne 1300 Opfer. Belegt sind diese Zahlen bis heute nicht und werden deshalb unter Wissenschaftlern angezweifelt.

74 Prozent der Stadt sind nach dem 4. April zerstört. Eine Luftaufnahme der britischen Luftwaffe zeigt, dass auf einer Fläche von der Arnoldstraße bis zum Gehege, vom Taschenberg bis zum Pferdemarkt kein einziges Gebäude mehr stand. Petrikirche, Frauenbergkirche, Nicolaikirche, Jacobikirche – alles zerstört. Auf 650 000 Kubikmeter wurden 1949 die Schuttberge geschätzt.


Vier von sieben Kirchen lagen darnieder, vom mittelalterlichen Rathaus und vom noch jungen Stadthaus standen nur noch Ruinen. Nur wenige alte Bauten blieben erhalten, so der Walkenrieder Hof und das Torhäuschen, der Dom, St. Blasii und die Altendorfer Kirche.

Die Wirtschaft lag am Boden, der Schlacht- und Viehhof, das Gas- und Elektrizitätswerk. Kunstgegenstände waren geplündert, das städtische Archiv faktisch ausgelöscht. Die Industriezweige, wie Branntwein- und Kautabakfabrikation mussten mühsam wiederaufgebaut werden. Von 108 Industriebetrieben waren 46 völlig vernichtet, weitere 29 erlitten schwere Schäden. Handwerk und Handel waren zu 70 Prozent nicht mehr vorhanden.

Die letzten Reste aus Nordhäuser Haushalten. Viele davon waren bis zum Krieg durchaus gut situiert. Foto: Roland Obst


Auch die einzige Zeitungsredaktion am Königshof. In Folge des Krieges verlor die Stadt einen Großteil ihrer Eliten, ihres Unternehmertums. Sie gingen gen Westen, befördert durch das neue kommunistische Regime. Schon 1949 klang das im Ausstellungskatalog so: „Die wichtigsten Nordhäuser Betriebe der alteingesessenen Branntwein- und Kautabakindustrie und der Maschinenindustrie wurden in die Hände des Volkes überführt, sie berichten über die Aufgaben, die sie im Rahmen des Zweijahresplans zu erfüllen haben.“

Nicht mehr zu erkennen war natürlich auch das Straßennetz der Rolandstadt. Von der 4,25 Kilometer langen Straßenbahnstrecke bestanden nur noch 40 Prozent und gerade einmal 500 Meter der Stromleitungen. Sämtliche Waggons waren nicht mehr einsatzbereit.

Mein Opa verbrannte im Keller

Die Erinnerungen von Gisela Jeschke

An diesen furchtbaren Tag habe ich trotz meines damaligen Alters (5 Jahre) einige Erinnerungen. Als der Angriff am 3. April erfolgte, befanden sich in unserem Keller – Reihenhaus in Niedersalza – vier Personen: unsere Mutter, mein Großvater und ich, außerdem unsere Nachbarin, welche durch den Kellerdurchbruch zu uns eilte. Der Fliegeralarm hatte uns dazu veranlasst.


Meine Schwester kam erst nach dem Angriff zu uns. Unser Vater war auch nicht da; man hatte ihn zum Volkssturm eingezogen, um Nordhausen zu „verteidigen“.

Nach dem Angriff hatte unsere Mutter den Opa gebeten, nicht in seine Wohnung zurückzukehren. Aber er wollte unbedingt nach Hause, seine Kaninchen versorgen. Meine Schwester wurde von unserer Mutter nicht mehr zur Arbeit gelassen.

Als am 4. April der zweite Angriff erfolgte, waren unsere Mutter, meine Schwester und ich sowie unsere Nachbarin wieder in unserem Keller.

Niedersalza hatte an diesem Tag nur ein vollständig zerstörtes Haus, dessen Bewohner Niedersalza aber vorher verlassen hatten und somit überlebten. Das besonders Schlimme erfuhren wir erst später: Mein Opa ist im Keller seines Wohnhauses verbrannt. Es konnte niemand diesen Kellerraum verlassen, da dieses Kellerfenster mit Trümmern verstellt war.

Mein Vater hatte aber noch etwas Schlimmeres zu erleben: Er wurde von den Amerikanern aufgefordert, die getöteten KZ-Häftlinge der Boelcke-Kaserne beizusetzen. Das hat ihn sehr belastet, aber er war froh, seine eigene Familie gerettet zu wissen.


Hundertfacher Tod in der Boelcke-Kaserne

Am 11. April 1945 werden die US-Befreier mit den Folgen der Bombardierung, vor allem aber den Folgen des NS-Terrors konfrontiert

Es ist ein Grauen, mit dem die Amerikaner am 11. April 1945 in der Boelcke-Kaserne konfrontiert werden: Einige 100 Lebende vegetieren zwischen mehr als 1000 Leichen und Trümmern. Viele sind so schwach, dass für sie die Hilfe zu spät kommt.

Fünf Tage nach der Befreiung, am 16. April 1945, müssen Nordhäuser Zivilisten auf Befehl der amerikanischen Militärverwaltung fast 2000 Leichen aus der Boelcke-Kaserne auf dem Ehrenfriedhof bestatten: rund 1300 Häftlinge, rund 700 Junkers-Zwangsarbeiter.


„Nur ein geringer Teil der toten Häftlinge war infolge der Luftangriffe gestorben“, betont Jens-Christian Wagner, bis August 2014 Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Die Boelcke-Kaserne ist ab Januar 1945 das Sterbelager des KZ. Hier wird „durch organisierte Vernachlässigung getötet“, so Wagner. Neben der täglichen Wassersuppe gibt es im Monat März 1945 nur zweimal etwas Brot. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Zeitweise zwängt die SS über 3000 sterbende Häftlinge auf nicht einmal 1800 Quadratmeter.

Nach SS-Unterlagen sterben zwischen dem 8. Januar und dem 2. April 1662 Häftlinge. Am 8. März werden 2250 Menschen auf einen Todesmarsch geschickt, weil der Platz knapp wird. Von denen ist kein Überlebender bekannt.

Am 3. und 4. April wird die Kaserne bombardiert. Für die Wachmannschaften gibt es Splitterschutzgräben, die Häftlinge sind den Bomben schutzlos ausgeliefert. Die beiden Fahrzeughallen waren nicht mit dem roten Kreuz als Unterkunft für Kranke gekennzeichnet, die Briten vermuteten eine Luftwaffenkaserne.

Was hier zwischen dem 4. und 11. April geschieht, ist unklar, sagt Regine Heubaum von der KZ-Gedenkstätte. „Wir wissen nicht einmal, ob die Kaserne geräumt wurde oder ob die Häftlinge sich selbst überlassen wurden.“ Die SS soll sich nach der Bombardierung aus Nordhausen abgesetzt haben. Ein Überlebender der Boelcke-Kaserne berichtete, dass die Gehfähigen noch zum Hauptlager getrieben wurden. „Aber verifiziert ist diese Einzelaussage nicht“, so Heubaum. Die einzig sichere Quelle sind die Fotos und Filmaufnahmen der Befreier.

Durch die Stadt geirrt

Karla Lamsters Zeitzeugenbericht

Der 4. April 1945 war mein letzter Schultag. Wir hatten eine Ausstellung gemacht und sollten diese nun wieder abholen. Die Kinderpflegerinnenschule stand auf dem Petersberg. Ich weiß nicht mehr, wann das Bombardement losging. Es hat ja keinen Alarm mehr gegeben, weil vom 3. April schon alles kaputt war. Eine Lehrerin kam rein und sagte: „Wir müssen in den Keller. Die Flieger sind wieder unterwegs. Da knallte es schon. Wenn sie heute sagen, die Bomben sollten nicht der Innenstadt gelten, kann ich mir das nicht vorstellen.

Der Teil, in dem wir drin waren, blieb stehen. Wir sind dann raus und sahen eine Ruinenlandschaft. Es krachte in allen Ecken. Und brannte. Feuer. Und Menschen haben geschrien. Das ist nicht zu beschreiben.

Ich kann nicht sagen, wo wir damals entlang liefen, um nach Kinderode zu kommen. Irgendwo bei der heutigen Tischlerei Fischer in der Parkallee kamen wir raus. Wir müssen durch den Stadtpark gelaufen sein und dann durch Niedersalza. An der Kasseler Straße kamen die Tiefflieger, wir sprangen in den Graben. Die haben auf den einzelnen Menschen geschossen. Es war schrecklich.

Kaum wiederzuerkennen: Nordhausen vor 1945 und 2015

Die Schneise der Verwüstung können selbst Fremde heute noch erkennen – anhand der Nachkriegsarchitektur

Viele ältere Nordhäuser vergleichen ihre Stadt bis heute mit der Schönheit Quedlinburgs. Rund um den Taschenberg, am Petersberg, am Lutherplatz, unterhalb der Stadtmauer oder in der Töpferstraße – überall standen bis 1945 entweder kleine Fachwerk- oder stattliche Handelshäuser. Für einen Nachgeborenen können nur alte Bilder und teils Videoaufnahmen begreifbar machen, wie die Rolandstadt einst aussah.

Kirchtürme helfen bei der Orientierung, doch viele Straßenzüge gibt es nicht mehr, vor allem rund um die Töpferstraße. Mit einem enormen Aufbauprogramm, auch dem Einsatz der Trümmerfrauen, erstand Nordhausen aus Ruinen auf.

Rathaus und Theater ertüchtigte man sehr schnell, das Kino war eines der ersten Nachkriegsgebäude. Rund um den Lutherplatz baute man in den 50er Jahren auf alte Keller. Noch heute steht ein Wohnblock unter Beobachtung, weil er sich wegen der Keller zu setzen droht.

Doch die Wunden blieben viele Jahrzehnte. Erst in den 80er Jahren schloss man die letzten Lücken in der Rautenstraße und am Kornmarkt. Mit früherer Architektur hatte diese nichts mehr gemein. Das gilt auch für die Gebäude, die nach der Wende 1989 entstanden und nach und nach die Wunde vom April 1945 schlossen.

Heute – 2015 – blüht die Stadt wieder, wenn sie auch niemals an ihr einstiges Erscheinungsbild anknüpfen kann.

Zuletzt war es im Jahr 2004 die Landesgartenschau, die auch die letzten vom Bombardement zerstörten Flächen zu lebenswerten Bereichen machte. Der Petersberg wurde nie wieder bebaut, abgesehen von den Schulen rund um den Petriturm. Eine 2004 wieder freigelegte Gasse, die auf Druck der Bevölkerung bestehen blieb, kündet von der einstigen Bebauung.

Vor 1945: Der Lutherplatz Richtung Königshof fotografiert, links das nicht mehr existente Riesenhaus.

Blick auf die zerstörte Stadt im Feuerschein

Gerda Krautz aus Leipzig blickt zurück

Das Inferno des Krieges hat am 4. April auch meine geliebte Heimatstadt Nordhausen zerstört und 8000 Menschen das Leben gekostet. Über einen Zeitraum von 70 Jahren hinweg blicke ich zurück auf das Kind, das ich einst war…

Es steht auf den Trümmern des zerbombten Hauses, in dem es mit der Familie gelebt hat. Sie sind knapp der Vernichtung entkommen. Irgendwann sind die Menschen aus dem Kellergang, in dem sie halbverschüttet gehockt hatten, hochgekrochen auf den riesigen Trümmerberg, der Kellergang hatte als einziges Gemäuer standgehalten. Das Kind steht auf dem Trümmerhaufen, sieht die ganze Blödaustraße in Trümmern, es blickt in die vom hitzigen Feuerschein flimmernde Luft und weiß schon in diesem Moment: Nichts wird mehr so sein, wie es bis heute war.

Gerda Krautz (geborene Vogel) in Schwarz auf einem Bild aus dem Jahr 1951.

So sehe ich mich in der Erinnerung an den furchtbaren Luftangriff. Das an- und abschwellende Heulen der Sirenen am Morgen, das wahllose Greifen der Mutter nach ein paar Dingen – das Rennen in den Keller – hingeduckte Gestalten – entsetzliches Krachen, Bersten – bebende Erde – Atemnot – Schreie in der Dunkelheit: alles ist unauslöschlich eingebrannt in das innere Auge.

Großmutter, Mutter, Bruder und ich flüchten nach Bielen, fanden Aufnahme bei der Schwester der Mutter. Nach drei Tagen hatte uns der Vater gefunden. Großes Glück: Alle lebten!

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Es muss ein Schock gewesen sein, der die Geschehnisse nur schemenhaft im Gedächtnis beließ: Die Töpferschule zerstört, Schulkameradinnen tot oder verstreut. Ein Jahr lebten wir zu viert in einem Raum im Mütter- und Kinderheim in der Dom-straße. Nach zwei Unterkünften in Bielen und Salza fanden wir endlich eine Wohnung in Nordhausen, W.-Nebelung-Straße.

Wie eine Zäsur bleiben für immer: das Innehalten auf dem Trümmerberg, wohin sie das nackte Leben gerettet hatten – und der Blick vom Acker zwischen Nordhausen und Bielen auf die zerstörte Stadt im Feuerschein. Geblieben ist die Liebe zu meiner Heimatstadt.

Der Chronist der Höllentage

Werner Steinmann erkannte, dass niemand besser das Inferno hätte dokumentieren können als ein Fotograf

Dass der Fotograf in den Tagen des Untergangs seiner Heimatstadt überhaupt zur Kamera gegriffen hat, grenzt an ein Wunder.

Im Krieg als Soldat schwer verletzt, verlor Werner Steinmann schon bei den Angriffen vom 3. April 1945 seine Frau Agathe und den gemeinsamen Sohn Hans-Gerd. In einem Luftschutzkeller am Jakobi-Kirchplatz starben sie gemeinsam mit den Schwiegereltern.

Er selbst hatte, wie schon Jahre zuvor im Krieg, einen Schutzengel. Als die Bomben fielen, war er mit seiner Mutter im Fotoatelier in der Töpferstraße. Das am nächsten Tag ebenfalls nicht mehr existierte.

Fotograf Werner Steinmann hielt die Bombenangriffe in Bildern fest. Foto: privat

Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser schlimmen Erlebnisse packte sich Steinmann die Kamera und hielt die schwärzesten Stunden der tausendjährigen Stadt am Harz fest – mit Erlaubnis der Besatzer.

„Ich bin wie ein Wahnsinniger durch die Stadt gelaufen, orientierungslos, und habe un-ter dem Aspekt fotografiert, dass so etwas nie wieder passieren möge“, berichtete er später seiner Tochter Gabriele Meißner, die heute noch ein Fotogeschäft in Nordhausen betreibt.

Was er auf Papier bannte, lässt jeden Betrachter schaudern (siehe Fotoleiste oben). Eine Landschaft aus Kratern und wenigen Ruinenmauern. Eine Stadt, der man in diesen Stunden kein Weiterleben zugetraut hätte.

Heute gehören diese Aufnahmen zu den wertvollsten Zeugnissen dieser schlimmen Zeit. Nicht umsonst kaufte die Stadt die Bilder und wird sie auch noch in 100 Jahren den Nachkommen zeigen können.

Steinmann selbst, geboren am 16. Mai 1913 in Bleicherode, durfte noch miterleben, wie wichtig seine damalige Entscheidung war, die Kamera in die Hand zu nehmen. Er wurde 98 Jahre alt, verstarb im Juli 2011. Seine Tochter und inzwischen auch sein Enkel Andreas halten das Andenken Werner Steinmanns in Ehren.

Nordhausen nach dem Bombenhagel: Auf den folgenden Bildern zeigen wir Fotos von Werner Steinmann, hier den Petersberg mit Gericht.
 

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Freundliche Nachbarin kam um

Jutta Arndt erlebte Schreckliches

Am 1. April 1945, also am Ostersonntag, besuchten wir meine Großeltern in Bielen. Als ich dort ankam, hörte ich, wie Tiefflieger die Menschen, die sich auf der Chaussee befanden, beschossen. Ich schrie wie am Spieß: „Meine Mutter ist noch auf der Chaussee.“ Sie erzählte später, dass sie sich mehrmals in den Graben und über meinen kleinen Bruder geworfen hatte.

Ostern erlebten wir in Ruhe. Am 3. April wollten wir wieder nach Hause. Plötzlich, ohne Sirenengeheul, war das Fliegergebrumm über uns, und wir schafften es in den kleinen Keller unter dem Haus. Vor der Haustür bot sich uns eine schreckliches Bild. Das Haus der Nachbarin, die uns zuvor gewarnt hatte, war zum Trümmerhaufen geworden. Tage später fand man sie und ihre Familie tot. Dann erlebten wir den 2. Angriff auf Nordhausen. Wieder fielen Bomben und es gab wieder Tote.

Ruhig am Zünder: „Das Zittern kam oft erst hinterher“

Helmut Zinke entschärfte in Nordhausen bis 1988 exakt 246 Bomben. Dennoch blieb der heute 84-Jährige bescheiden

„Ich war jung, groß, hatte Hunger.“ Helmut Zinke mag den Beruf eines Brauers gelernt haben, arbeitet nun als 22-Jähriger aber beim Betriebsschutz des Unterbreizbacher Kaliwerks. Doch verlockend ist etwas anderes: Die Männer, die in seinem Heimatort Dippach bei Eisenach gerade einen Blindgänger entschärfen, bekommen als „Schwerstarbeiter“ doppelt so viele Lebensmittelscheine. Er erfährt davon – und heuert als Hilfsarbeiter an.

„Ein halbes Jahr wollte ich bleiben – fast vier Jahrzehnte sind draus geworden.“ Helmut Zinke blickt zurück auf sein Arbeitsleben als Bombenentschärfer. Bei 800 Blindgängern hat er den Zünder ausgebaut, sie unschädlich gemacht: in allen drei Thüringer Bezirken, in Berlin-Marzahn, rund um Dessau.

„Nordhausen aber hat die meisten Blindgänger abgekriegt“, sagt er. Vielleicht liege das daran, dass die Flugzeuge mit ihrer tödlichen Fracht sehr tief flogen, sich der Sicherungsstift vom Zünder zwischen Abwurf und Landung deshalb nicht mehr lösen konnte.

400 Blindgänger entdeckte man seit 1954 in der Rolandstadt, 246 davon hat Zinke zwischen 1962 und 1988 entschärft. Er erzählt von einer Bombe knapp unter den Bahnhofsgleisen, von einer Zwei-Tonnen-Luftmine mit drei Zündern, die bei Bielen entdeckt wurde. Am Schinderrasen waren im März 1962 14 Bomben zu entschärfen: Zinke legte los mit Rohrzange, Hammer und Meißel, entschärfte sieben Bomben nacheinander. Er hätte noch weiter gemacht, wäre er nicht gebremst worden. „Ich hab‘ mir einen Jux gemacht“, sagt er schelmisch.

Aber er sagt auch: „Vorsicht ist keine Feigheit und Leichtsinn kein Mut.“

Mit 14 musste Zinke noch zum „Volkssturm“

Ein einziges Mal, auf dem Gelände von Dreistreif, erzählt seine Frau Christa, sei sie dabei gewesen, habe in einem Bunker über einen Kopfhörer jeden Atemzug ihres Mannes mitgehört. „Einmal und nie wieder…“

 

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An der ausgegrabenen Bombe ist der Sprengmeister meist allein. Weggenossen bescheinigen Zinke, stets ruhig und souverän geblieben zu sein. Wie gegenwärtig die Angst gewesen sei? Der heute 84-Jährige weicht aus, erzählt, wie er in jungen Jahren auf einem Lkw hintendrauf saß, eine 50-Zentimeter-Granate neben sich. „Was habe ich gezittert…“ Dass sie gar keinen Zünder mehr hatte, wusste er nicht.

Wieder ist es seine Frau, die die Emotionen in Worte zu fassen versucht. Oft habe er nach dem Entschärfen daheim einfach einen Kaffee gewollt – und damit die Gelegenheit zu erzählen. „Die Reaktion, das Zittern, kam oft erst hinterher“, ergänzt Helmut Zinke.

Die Lebensmittelmarken waren Anlass, mit dem Bombenentschärfen zu beginnen – dabei geblieben ist Helmut Zinke, nachdem 1954 in einem Steinbruch in Gotha fünf Kinder verunglückt waren: Sie hatten explosive Munition gefunden.

Zinke wollte, dass niemand ums Leben kommt wegen der Nachkriegslast – und riskierte deshalb wieder und wieder sein eigenes Leben.

1955 wurde Helmut Zinke Sprengmeister, 1962 Betriebsleiter des Munitionsbergungsdiensts, damals noch eine Dienststelle der Volkspolizei. 1974 wurde Zinke für ein Vierteljahr nach Vietnam gerufen, um dort Offiziere in der Munitionsbergung und -entschärfung auszubilden, Später war der Experte dabei, als in Thüringen gefundene Chemiewaffen in der Ostsee versenkt wurden. Auf einem ausgemusterten Schiff hatte man die Fracht einbetoniert, um sie in den Gewässern vor der dänischen Insel Bornholm loszuwerden.

Helmut Zinke wurde „Held der Arbeit“, bekam auch den Vaterländischen Verdienstorden. „Ich wusste gar nicht, wohin die Orden an der Uniform gehören.“ Er lacht – er blieb bescheiden und wohnt seit Jahrzehnten in einer Drei-Zimmer-Wohnung der früheren Kommunalen Wohnungsverwaltung Erfurt.

Stolz ist er heute weniger auf die offiziellen Ehrungen – zu denen seit 2008 auch das Bundesverdienstkreuz gehört – als vielmehr darauf, dass in Nordhausen sein Name voller Ehrfurcht und Dankbarkeit genannt wird. Beim Festumzug zum 1085-jährigen Stadtjubiläum bat ihn Ex-Bürgermeister Peter Heiter mit auf einen Wagen. Einst habe ihm der Rat der Stadt sogar ein Haus in Nordhausen angeboten.

Seit 1969 ist Helmut Zinke Ehrenbürger Nordhausens, dieselbe Ehre wurde ihm drei Jahre zuvor schon in seinem Heimatort Dippach zuteil.

Dort hatte der Krieg die späte Kindheit des Jungen geprägt: Er sah die Soldaten, die den nahen Munitionsschacht bewachten, er sah 1945 von dort aus Kassel brennen. Als 14-Jähriger wurde Helmut Zinke noch in den letzten Kriegstagen im „Volkssturm“ an der Panzerfaust ausgebildet.

Munition zu entschärfen, wurde neun Jahre später seine Lebensaufgabe. 1989 drehte er auf dem Erfurter Flughafengelände den Zünder seiner letzten Bombe heraus. Er hatte seiner Frau Jahre zuvor versprochen, dass nach der 800. Bombe Schluss sein wird. Also ging er mit 59 in den Ruhestand, wegen Invalidität. Schon drei Jahre vorher hatte er eine Kehlkopf-Operation. Die Krankheit hat ihm seine kräftige Stimme genommen, ließ ihm nur ein heiseres Flüstern. Doch seine Worte haben Gewicht: weil einer spricht, der den Tod Hunderte Male neben sich wusste und trotzdem immer wieder in die Grube stieg. Auch, damit Nordhäuser sicher leben können.

Mein Opa rettete eine Jüdin

Gerlinde Schattenberg erinnert sich

In unserem kleinen Dorf Mauderode herrschte Angst, Angst vor den englischen Tieffliegern mit Kurs auf Nordhausen. Und da fängt mein Opa Willi Krug an, ein Loch im Schuppen zu buddeln. Warum?

Das wollte ich als damals Fünfjährige ganz genau wissen. „Für die Nähmaschine“, war die Antwort. Weil die Amerikaner bald kämen und sie zerstören würden. Deshalb müsse sie versteckt werden. Der Schuppen am Haus der Landarbeiterwohnung war jedenfalls fortan Tag und Nacht verschlossen. Nur die Hühnerklappe nicht. Eines Tages sah ich meinen Opa mit Essen in den Schuppen gehen. Wieso braucht eine Nähmaschine etwas zu essen, wollte ich wissen. Das sei für die Hühner, so die Antwort. So recht zufrieden war ich mit der Auskunft nicht.

Eines Tages rollten viele amerikanische Panzer durch unser Dorf. Als Lager Dora befreit war, hatten wir viel Besuch. Männer aus Italien. Sie wollten zu meinem Opa, sich bedanken. Sie waren vor der Hölle am Kohnstein Zwangsarbeiter auf dem Rittergut Mauderode, und mein Opa, Landarbeiter auf dem Gut, hatte ihnen heimlich Essen zugesteckt. Einige Wochen später kam wieder Besuch, eine junge Frau, mit zwei russischen Offizieren. Diese junge Frau, eine Jüdin, ich glaube, sie hieß Maria, war die gut versteckte „Nähmaschine“. Sie hat sich in ihrem Versteck über meine vielen Fragen amüsiert. Was aus ihr geworden ist, haben wir nie erfahren.

Der Landarbeiter Willi Krug, mein Opa, ist auch während der Hitlerbarbarei Mensch geblieben, hat noch Schwächeren in der Not geholfen.

Wie das Eisenwarengeschäft Quelle zerstört wurde

Von dem Haus Sundhäuserstraße 4, das inzwischen Georg Lang gehörte, blieb am 4. April nur ein Teil des Lagers übrig

Das ist das Elternhaus meiner Mutter Ursel Schulz, geborene Lang – ehemals Sundhäuserstraße 4. Es wurde am 4. April 1945 durch einen Bombenangriff zerstört. Die Schäden am 3. April blieben noch gering. Am 4. April, am Vormittag, erfolgte der große Bombenangriff auf Nordhausen. Auch das Wohnhaus mit Geschäft wurde total zerstört, so wie 70 Prozent der Nordhäuser Innenstadt. Lediglich das Lager auf dem Hof war zum Teil erhalten geblieben.

Ein Bild aus glücklicheren Tagen. Georg Lang führte lange Zeit das einstige Geschäft Robert Quelle.

Meine damals schwangere Mutter und ihre Eltern fanden eine Notunterkunft im Bürohaus gegenüber, in der Arnoldstraße.

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Gerettet wurde gerade mal ein Spind (den ich heute noch im Keller habe) und ein Kohleherd sowie etwas Aussteuer und Bettdecken aus dem Keller.

Später bekamen meine Mutter (mein Vater war zu der Zeit Soldat und bis 1948 in russischer Gefangenschaft) und ihre Eltern (meine Großeltern) Obdach auf einem Trockenboden in der Kasseler Straße. Am 12. und 13. April 1945 wurde von den Amerikanern noch so einiges weggenommen – „beschlagnahmt“, wie ein geretteter Pelzmantel und Papiere vom Geschäft.

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Mein Großvater hatte den Mut dazu und konnte ab etwa Juli 1945 das notwendige Eisenwaren-Geschäft in der Freiherr-vom-Stein-Straße 5 wieder eröffnen. Es ging nur sehr langsam bergauf.

Meine Schwester wurde im September 1945 geboren. Um ins Krankenhaus in der Oberstadt zu kommen, gingen meine schwangere Mutter und ihre Mutter in Begleitung eines Polizisten zu Fuß zum Krankenhaus. Nachts durfte man damals noch nicht allein wieder auf die Straße.

Die Autorin Gabriele Jahnke ist die Tochter der Zeitzeugin Ursel Schulz.

Quelle: ta-webreportagen.de

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Heidi
Heidi
7 Jahre zuvor

Schon 1939 zitierte Winston Churchill: “Dieser Krieg ist ein englischer Krieg, und sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands” und vor dem kriegsverbrecherischen Angriff auf Dresden, wie vom britischen Historiker DAVID IRVING am 13. Februar 1990 anlässlich des Gedenkens zum 45. Jahrestag dieses Kriegsverbrechens der Alliierten im Dresdner Kulturpalast den Kriegstreiber und Kriegsverbrecher WINSTON LEONHARD SPENCER CHURCHILL zitiert: „Ich will keine Vorschläge hören, wie wir kriegswichtige Ziele im Umland von Dresden zerstören können; ich will Vorschläge hören, wie wir 600.000 Flüchtlinge aus Breslau in Dresden braten können.“ Die kriegsverbrecherischen Taten der Alliierten und anderer, wie zum Beispiel die Ermordung der deutschen Flüchtlinge durch Polen und Tschechen, sowie der deutschen Kriegsgefangenen in den Rheinwiesenlagern durch die Amerikaner, wurde von Gerhart Baum, seines Zeichens FDP-Politiker, mit den Worten zitiert „Eine Darstellung von an Deutschen begangenen Verbrechen ist nicht zweckmäßig.“

Birgit
Birgit
7 Jahre zuvor
Reply to  Heidi

England war schon immer der Hauptkriegstreiben. In der „Neuzeit“ wird nur ihre Firma USA vor geschoben.
Old Britanien gibt es nicht mehr, es gehört der City of London und die wiederum dem Vatikan. Und somit schließt sich der Kreis zum UCC.

Aber das sollte nie raus kommen !

Ulrike
Ulrike
7 Jahre zuvor

Das waren die grössten Kriegsverbrechen. Aber da sagt keiner was von unseren Polithanseln. Die kuschen weiterhin schön vor den Amis und Briten .

Hauptsache die blöden Deutschen Jubeln der Queen zu wenn sie mal wieder in Deutschland ist. So blöd ist unser Volk.

Heidi
Heidi
7 Jahre zuvor

Es war schon immer so: die Geschichte wird von den Siegern geschrieben und fast 72 Jahre Umerziehung trägt Früchte.

Annette
Annette
7 Jahre zuvor

Mögen die Kriegstreiber und die Verräter aus den eigenen Reihen VERFLUCHT SEIN bis in alle Ewigkeit!
Das waren gar keine Menschen, die sahen nur so aus…