Geopolitik – Feige Politik: Merkel spricht über Flüchtlinge und sagt kein Wort zum Krieg

Bei ihrem Auftritt zum Flüchtlings-Strom ist es Angela Merkel erneut gelungen, den ausufernden Krieg in Syrien mit keinem Wort als Ursache zu erwähnen. Die Kanzlerin übersieht, dass es nicht nur ein Menschenrecht auf Asyl gibt. Es gibt das universale Recht auf die Unversehrtheit des Lebens. Alles Pathos ist wertlos, wenn die europäische Außen- und Sicherheitspolitik universal versagt.


Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz zur Flüchtlingskrise am Dienstag in Berlin. (Foto: dpa)

Angela Merkel und der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann sind am Dienstag in Berlin gemeinsam vor die Presse getreten und haben im Grund ihre bekannten Positionen wiederholt: Man müsse in einer Notlage helfen. Merkel sagte: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Das klingt großartig und ist sicher geeignet, das moralische Selbstbewusstsein der Deutschen zu stärken.

Wirklich notwendig ist es nicht: Das Bild Deutschlands in der Welt ist seit langem hervorragend. Deutsche Entwicklungshilfe-Organisationen, Kirchen, Schulen und gemeinnützige Einrichtungen leisten weltweit großartige Arbeit. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland war gründlich und hat Generationen geprägt: Die Zahl der Rechtsextremen ist, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, verschwindend gering. Jeder ausländische Beobachter findet anerkennende Worte für die Tatsache, dass Deutschland eines der ganz wenigen Länder in Europa ist, in dem es keine starke rechtsextreme Partei gibt. Spätestens bei der Fußball-WM 2006 haben die Deutschen gezeigt, dass sie weltoffen sind und manchmal sogar „locker“.

Doch bei der Frage von Millionen Vertriebenen geht es nicht um das „freundliche Gesicht“ Deutschlands. Es geht um die hässliche Fratze des Krieges, der auch mit deutscher Unterstützung in Syrien entfesselt wurde. Syrien war bis vor kurzem ein stabiles Land. Baschar al-Assad ist kein lupenreiner Demokrat. Aber er ist ein gewählter Politiker. Ihn zu stürzen, war das Ziel der USA. Der Plan eines „regime change“ folgte dem Muster der Machtwechsel im Irak und in Libyen. Deutschland hat an keiner Stelle widersprochen. Die deutsche Rüstungsindustrie profitiert von diesen Kriegen. Saudi-Arabien, Verbündeter des Westens und einer der Hauptbrandstifter im Nahen Osten, erhält deutsche Waffen – und kümmert sich keinen Deut um die Flüchtlinge.

Merkel hat die Botschaft der Vertriebenen nicht verstanden: Diese klagen nicht die EU wegen mangelnder Asyl-Freudigkeit an, sondern alle Kriegstreiber im Nahen Osten – Großmächte und Regionalmächte. Dazu gehört auch Deutschland, weil sich die Bundesregierung beharrlich weigert, ihrer Aufgabe nachzukommen: Eine Außen- und Sicherheitspolitik zu praktizieren, die sich genau nach den Regeln hält, die Deutschland in der Aslyfrage glücklicherweise hochhält. Zu diesen Rechten gehören das Recht der Selbstbestimmung der Völker, die Achtung der Demokratie, der Schutz von Minderheiten und die Achtung der territorialen Integrität. Im Fall von Syrien und des Irak ist keines dieser Rechte gewahrt. Es herrscht, wie die Nahost-Expertin Karin Leukefeld geschrieben hat, „Politik in Wild-West-Manier“.

Daher wäre es jetzt geboten, den geplanten EU-Gipfel zur Lösung des Problems nicht wieder zu einem internen Feilschen und gegenseitigen Schuld- und Lastenzuweisungen. Die Diskussion gar, ob man Staaten wie Schulkinder bestrafen soll, wenn sie ihre Quoten nicht erfüllen, ist läppisch und verstärkt genau den Eindruck, den Merkel auch erweckt: Die Vorstellung, dass die Welt an den EU-Außengrenzen beginnt und auch hoffentlich auch wieder endet, wenn man Grenzposten aufstellt, verkennt, dass es nicht um Moral, sondern Realpolitik geht. Es muss die oberste Priorität sein, dass die EU–Staaten zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beraten, die nur ein Ziel haben kann: Krieg und Zerstörung in Syrien so rasch als möglich zu beenden.

Es ist in dieser Hinsicht nicht zu akzeptieren, dass Merkel dieses Problem bei ihrem Auftritt mit keinem Wort adressiert hat. Bundeskanzler Faymann hat den Krieg zumindest in einem Nebensatz erwähnt – doch mit der realitätsfremden Einschränkung, es sei jetzt wichtiger, zu helfen, als über den Krieg zu diskutieren. Wenn jetzt nicht bald über den Krieg diskutiert wird, werden die Ströme der Vertriebenen weiter strömen. Und bald werden die Europäer keine Kräfte mehr haben, um „zu helfen“.

Die universale Gültigkeit der Menschenrechte zu wahren ist die Aufgabe einer Bundesregierung. Das ist zugleich altruistisch und eigennützig: Im Zeitalter der Globalisierung gibt es keine Grenzen mehr. Menschen machen sich auf die Flucht, wenn Bomben fallen. Und sie gehen, wie wir sehen, notfalls zu Fuß um die halbe Welt.

Die EU muss unter Führung Deutschlands einen Schulterschluss mit Russland und den USA vermitteln, um den Krieg zu beenden. Aktuell herrscht in der Außen- und Sicherheitspolitik dieselbe Kakophonie wie in der Flüchtlingsfrage: Briten und Franzosen sind für weitere Bomben, die Osteuropäer schüren weiter den Konflikt mit Russland, Deutschland versucht, sich wegzuducken.

Angela Merkel übersieht in ihrem grenzenlosen Glauben an die technokratische Lösung von Problemen, dass sie ein willfähriges Werkzeug der Kriegstreiber ist, wenn sie sich nicht wehrt. Das gilt für die Ukraine, wo die EU-Steuerzahler jetzt ohne große öffentliche Debatte die Gas-Rechnung für den Winter zahlen müssen – weil der Kalte Krieg zwischen den USA und Russland das Land in einen Zustand zu versetzen droht, der dem Syriens immer ähnlicher wird.

Das gilt aber noch viel mehr für den Nahen Osten – und zwar ganz konkret: Die EU hat viele Möglichkeiten, die Realpolitik der US-Regierung zu beeinflussen. Das ist nicht einmal anti-amerikanisch: Denn die Demokraten unter Präsident Barack Obama wollen aus dem Krieg aussteigen. Deutschland könnte Obama sogar einen Gefallen tun, wenn es sich gegen die Neocons und die Rüstungs-Lobby stellt. Die Maßnahmen, die zu ergreifen wären: Ende der EU-Sanktionen gegen Syrien; Schulterschluss mit Russland, Gespräche mit der Opposition und mit Assad, um einen Waffenstillstand herbeizuführen; Finanzierung der UN-Flüchtlingslager in der Region: Es ist ein Skandal, dass diese bis heute nur zu 20 Prozent finanziert sind – obwohl die UN seit Jahren Alarm schlägt.

Das triefende Pathos, das Merkel und Faymann auch bei der Pressekonferenz wieder an den Tag gelegt haben, wird den Vertriebenen nicht helfen, es wird sie nicht erreichen, es wird sie nicht trösten. Sie haben ihre Existenz, ihre Heimat verloren. Sie haben wahrlich andere Sorgen als den Deutschen und den Österreichern Dankbarkeit zu erweisen. Auch nicht eine innereuropäische Umverteilung von Steuergeldern – das scheint Merkel vorzuschweben, wenn sie von den „hot spots“ spricht, die an den Außengrenzen errichtet werden.

Es ist bemerkenswert, wie die europäischen Regierungen von den Ereignissen so „überrascht“ werden konnten: Was machen denn eigentlich die Geheimdienste, inklusive der NSA, die ja angeblich für die Sicherheit Deutschlands so unverzichtbar sind? Übersehen die Dienste die Millionen Flüchtlinge, weil sie so sehr mit dem Lesen der Emails und dem Abhören der Telefone von Millionen Europäern ausgelastet sind? Worüber reden die Regierungen eigentlich bei ihren Gipfeln? Hat in Ellmau keiner das Thema angesprochen? Vielleicht hätte man ja Russlands Präsident Wladimir Putin doch einladen sollen.

Putin weiß genau, was der Flächenbrand im Nahen Osten für Folgen haben wird: Zuerst kommen die Vertriebenen. Und nach ihnen wird der Krieg nach Europa kommen – die Aufforderung der Al Kaida an die Muslime des Westens, Terroranschläge zu verüben, ist von der deutschen Öffentlichkeit einfach ignoriert worden. In Russland – wie übrigens auch in Israel – werden sogar Berichte gesendet, dass der Iran davor warnt, Terroristen könnten mit „schmutzigen Bomben“ ausgestattet werden, wenn der Zerfall der Staaten im Nahen Osten derart chaotisch voranschreitet wie jetzt.

Wir müssen den Flüchtlingen sehr dankbar sein: Sie überbringen in all ihren Entbehrungen die zentrale Nachricht von der globalisierten Gewalt. Ihre Hoffnung auf ein starkes Europa ist die Hoffnung auf Recht und Gesetz. Ihre Hoffnung ist, dass es Länder gibt, in denen Krieg verpönt ist – auch wenn er tausende Kilometer weiter entfernt tobt.

Mitleid ist keine politische Kategorie. In einer Zeit, in der Politik immer mehr zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln verkommt, muss Europa alles unternehmen, um den Krieg im Nahen Osten zu stoppen. Das ist möglich. Und es ist höchst notwendig, dass Angela Merkel sich ausschließlich dieser Aufgabe widmet. Dafür wurde sie gewählt. Daran wird sie gemessen werden.

Quelle: Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 15.09.2015

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