Antidepressiva im Abwasser: Alarmierende Veränderungen bei Tieren

09.08.2015
Andreas von Rétyi

Ein florierender Zweig der pharmazeutischen Industrie ist die medikamentöse Behandlung von Depressionen. Diese Präparate gelangen aber buchstäblich »durch« den Menschen auch in die Umwelt. Fische und Vögel nehmen sie auf, was unter anderem deutliche Verhaltensänderungen auslöst – die sich verheerend auf ganze Ökosysteme auswirken können.

Aktuelle Untersuchungen bestätigen eine erschreckende Entdeckung und liefern neue Details: Eines der am häufigsten verschriebenen Antidepressiva führt bei einigen Vogelarten zu merklichen Veränderungen – sowohl im Verhalten als auch körperlich. Konkret gesagt handelt es sich um den Arzneistoff Fluoxetin, für den der US-Pharmakonzern Lilly 1975 ein Patent erhielt (»Fluctin«).

Was diese Substanz sowie allgemein auch Konzernmachenschaften betrifft, berichtete darüber der ehemalige Geschäftsführer von Eli Lilly Schweden, John Virapen, bereits vor Jahren ausführlich in seinem Buch Nebenwirkung Tod. Von 1977 bis 1979 war, nebenbei bemerkt, George H. W. Bush Direktor des Eli-Lilly-Konzerns.

Fluotexin zählt zu den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und soll die Wirkung des Glückshormons Serotonin verlängern, was im Gesamteffekt allerdings nicht immer ganz so gut klappt. Das demonstrieren auch die teils deutlichen und gar nicht so seltenen Nebenwirkungen, die von Übelkeit und Müdigkeit über Nervosität und Angstzustände bis hin zu sexuellen Dysfunktionen und sogar Suizidgedanken einschließlich Ausführung reichen. Dennoch, das in den USA 1988 und in Deutschland zwei Jahre später als Prozac eingeführte Präparat wurde zum Bestseller. Nicht nur zum Leidwesen vieler Patienten, sondern auch zahlreicher Tiere.

Die aktuelle Studie lässt tief blicken, was die Auswirkungen von Prozac & Co auf die Natur betrifft. Denn Rückstände des Mittels finden sich in menschlichen Ausscheidungen; entsprechend auch in der Nähe von Abwasseraufbereitungsanlagen und ebenso in küstennahen Gebieten. Und stets sind Tiere da, die es aufnehmen.

Die Forscher injizierten Fluoxetin in Raupen der Wachsmotte, um sie anschließend an wilde Stare zu verfüttern. Wenn sich die Vögel nahe Kläranlagen von wirbellosen Tieren ernähren, nehmen sie in etwa die gleiche Chemikalienmenge wie in diesem Experiment auf. Eine Dosis, die zu auffallenden Veränderungen führt.

Die an der Studie beteiligte Forscherin Dr. Kathryn B. Arnold stellt fest, dass die Vögel plötzlich ihre bisherigen Gewohnheiten der Nahrungsaufnahme abwandeln – sie stellen sich von zwei großen Mahlzeiten am Tag auf eine Art »Dauerbetrieb« um und verzehren fortwährend kleinere Mengen. Die sonst jahreszeitlich abhängige Gewichtsänderung fällt durch dieses neue Fressverhalten weg, die Vögel sind nun auch im Sommer schwerer und träger, weshalb sie schneller zur Beute werden. In bestimmten Regionen führt Fluoxetin dazu, dass ganze Populationen an Staren verschwinden, was zu verheerenden Ungleichgewichten im Ökosystem führt. Schließlich vertilgen die Vögel ganze Heerscharen an Insekten.

Die über den Patienten hinaus auftretenden Auswirkungen von Fluoxetin und anderer pharmazeutischer Produkte auf Tiere und Umwelt sind nicht erst seit gestern bekannt. Betroffen sind nicht nur Vögel. Vor fünf Jahren berichteten Wissenschaftler über einen Zusammenhang zwischen ungewöhnlichem Verhalten von Garnelen und hohen Fluoxetin-Konzentrationen in Küstengewässern.

Während die Tiere normalerweise die dunklen, sichereren Zonen besiedeln, tendierten sie nun mit fünfmal erhöhter Häufigkeit dazu, sich in lichtem Wasser aufzuhalten. Damit wurden sie zur leichten Beute, wobei Garnelen ohnehin wesentlicher Nahrungsfaktor solcher Gewässer sind. Doch führen Rückstände von Fluoxetin und diverser anderer Pharmazeutika, darunter Antirezeptiva und Steroide, zu dramatischen körperlichen Veränderungen bei den Tieren.

Wie ein Bericht in Nautilus, einem wissenschaftlichen Magazin zur Molluskenforschung, im Jahr 2013 beschreibt, belegen weltweit durchgeführte Studien: Normalerweise entwickeln männliche Fische stromabwärts von Klärwerken Eierstockgewebe in ihren Hoden. Bei weiblichen Tieren sind umgekehrte Effekte feststellbar. Auch gerät die geschlechtliche Balance drastisch ins Schwanken, wobei lediglich jedes zehnte Tier noch männlich ist – die Folgen sind klar, mit einem vehementen Einbruch der Fischpopulationen, was wiederum das komplette Ökosystem kippt, bis hin zu hungernden Grizzlybären.

Die dramatischen Auswirkungen liegen auf der Hand. Nur, was tun? Die Weltgesundheitsbehörde WHO hält angeblich sinnvolle Lösungen parat. Sie verweist auf bereits bestehende Technologien, mit denen sich bis zu 99 Prozent der pharmazeutischen Spuren aus den Abwässern entfernen ließen. Die Rede ist von Nanofiltern, Ozonisierung, fortschrittlichen Methoden der Oxidation und anderem mehr.

Außerdem sei es möglich, darüber zu entscheiden, wie und wo Abwasser behandelt werde. Man könne Verfahrensweisen und Regularien entwickeln, um die bisher bestehenden Praktiken effektiv abzuwandeln. Auch Programme zur Rücknahme von Medikamentenresten sowie eine verstärkte Informationspolitik zählt die WHO zu wirkungsvollen Maßnahmen.

Doch: Ist das alles radikal genug und ist es überhaupt sinnvoll? Sämtliche Vorschläge umgehen es »dezent«, das Übel an der Wurzel zu packen – dies ist nicht einmal längerfristig eingeplant. Diese Wurzeln liegen in den Medikamenten selbst, in ihrem sehr verbreiteten Gebrauch. Entscheidend wäre es doch, therapeutisch sinnvolle Alternativen zu wählen, um Stoffe wie Fluoxetin gar nicht erst an den Patienten zu führen, außer vielleicht in Ausnahmefällen. Das geht nicht? Wie gesagt, vielleicht nicht immer, aber häufig schlucken Patienten die Pillen doch für nichts und wieder nichts und werden sogar noch kränker, noch abhängiger. Erinnert sei nur an die »erfundene Krankheit« ADHS und das Gegenmittel Ritalin.

Wie gesagt, die höchst unerfreulichen Nebenwirkungen sind auch bei Fluoxetin nicht selten und stellen das gesamte Konzept infrage. Viele Menschen kommen heute ohne diese Präparate überhaupt nicht mehr aus, und die Industrie freut sich über die erreichte Abhängigkeit.

Das Geschäft boomt, doch wieder sind die Patienten die Leidtragenden. Selbstverständlich ließe sich ein solch gigantischer Industriezweig sogar bei bestem Willen nicht von heute auf morgen abschaffen. Aber dieser beste Wille besteht faktisch überhaupt nicht, es geht wie immer um Profit. Und alle machen mit!

Quelle: Kopp-online vom 09.08.2015

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