Sachsen: Immer mehr Babys kommen auf Crystal Meth zur Welt

Ein Neugeborenes liegt im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden in einem Inkubator

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Ein Neugeborenes liegt im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden in einem Inkubator

In Sachsen ist die Zahl der Neugeborenen, die Schäden durch Crystal Meth haben, in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Viele Mütter sind sogar bei der Geburt high, berichten die Ärzte.

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Sie sind zu klein, zu leicht, haben einen winzigen Kopf oder kommen zu früh zur Welt. Kinderarzt und Neonatologe Jürgen Dinger sieht immer häufiger Neugeborene, die sich im Mutterleib nicht normal entwickelt haben – schuld daran ist Crystal Meth. In dem Maß, in dem die Droge aus Tschechien über die Grenze nach Sachsen kommt, steigt auch die Zahl der abhängigen Frauen, die im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden Kinder zur Welt bringen. Oft sind sie dabei noch high.

Methamphetamin – so die korrekte Bezeichnung des synthetisch relativ leicht und günstig herzustellenden Stoffes – ist durch die Drogenküchen in der Nachbarschaft bislang vor allem in Sachsen ein Problem. Dort war die Zahl der Konsumenten, die sich hilfesuchend an Beratungsstellen wenden, im vergangenen Jahr mit knapp 5000 vier Mal höher als im Bundesdurchschnitt, berichtet die Landesstelle gegen die Suchtgefahren (SLS).

Dinger beobachtet seit einigen Jahren, wie die Zahl der durch die Droge geschädigten Föten und Neugeborenen in dem Bundesland drastisch zunimmt. Im Regierungsbezirk Chemnitz sei die Zahl seit 2007 um knapp 400 Prozent gestiegen, sagt er, im Regierungsbezirk Leipzig waren es 800 Prozent, im Regierungsbezirk Dresden sogar 1000 Prozent. Dort hat sich die Zahl der betroffenen Kinder verzehnfacht.

Kinderarzt und Neonatologe Jürgen Dinger

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Kinderarzt und Neonatologe Jürgen Dinger


„Richtig aggressiv und absolut schwierig“

„Es gibt nur relativ wenige Frauen, die ihre Sucht vorher zugeben“, sagt Katharina Nitzsche. Die Frauenärztin behandelt am Uniklinikum zusammen mit Dinger Crystal-kranke Frauen und ihre Kinder vor und nach der Geburt. Im Kreißsaal kommt es immer wieder zu Problemen, wenn die Mutter und damit auch das Kind unter Drogen stehen.

Die Neugeborgenen seien „unruhig und zappelig“, es könne zu Krampfzuständen kommen, sagt Dinger. Habe die Mutter vorher nichts konsumiert, sei zumindest das Verhalten der Kinder dagegen eher symptomlos. „Das Gleiche gilt für die Mütter: nichts genommen – ruhige Frau, entspannt“, ergänzt Nitzsche. „Was genommen – richtig aggressiv und absolut schwierig“. Die Frauen hätten unter Drogen eine geringere Schmerz- und Frustrationstoleranz, was zu Aggressivität führe. Im Extremfall müsse unter Vollnarkose mit Kaiserschnitt entbunden werden.

Bei den 35.000 Kindern, die im vergangenen Jahr in Sachsen zur Welt kamen, diagnostizierten Ärzte bei 160 bis 180 Schäden durch die Droge. Das seien jedoch nur die nachgewiesenen Fälle, sagt Dinger. Der Arzt geht davon aus, dass man auf die Zahl mindestens 50 Prozent draufschlagen muss.

Frauenärztin Katharina Nitzsche

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Frauenärztin Katharina Nitzsche

Spätere Sucht vorprogrammiert

Häufig ließen sich, anders als viele glauben, Chrystal-Kranke nicht gleich am Äußeren erkennen, sagt Nitzsche. Die Ärztin erinnert sich nur an einen solchen Fall. Die gute gesundheitliche Versorgung führe dazu, dass krasse Gesichtsalterungen, wie sie vor allem von US-Drogen- und Gesundheitsbehörden dokumentiert würden, hierzulande seltener seien. „Die meisten sehen doch relativ normal aus – wie du und ich“, sagt sie.

Nimmt die Mutter in der Schwangerschaft Drogen, drohen dem Kind nicht nur körperliche Schäden. Auch eine spätere Abhängigkeit sei mehr oder weniger programmiert, sagt Dinger. „Crystal Meth beeinflusst die Rezeptoren im zentralen Nervensystem und löst die Sucht aus“. Von Erwachsenen wisse man, dass dieser Prozess unumkehrbar ist. Wahrscheinlich hätten auch die Kinder ein höheres Risiko, später süchtig zu werden. „Der Körper verlangt einfach danach, weil die Rezeptoren bereits im Mutterleib entsprechend eingestellt wurden.“

Von einem Entzugssyndrom allerdings, wie es etwa bei Kindern heroinabhängiger Frauen auftritt, will Dinger nicht sprechen. „Die Auffälligkeiten sind mehr oder weniger Ausdruck einer Vergiftung“, sagt er. Und die klinge ab. Es fehlten jedoch jegliche Erfahrungen, wie den Kindern ein paar Jahre später – beispielsweise bei der Einschulung – gehe.

Der Arzt plädiert dafür, die Mütter nicht zu stigmatisieren, sondern ihnen Hilfe anzubieten. Viele hofften, dass nach der Geburt für sie ein neues Leben beginne. Die Schwangerschaft sei ein Ansatzpunkt, weil sie eine einzigartige und sensible Phase sei, sagt er. Die Sucht ließe sich zwar nicht immer durchbrechen – aber es sei möglich, Mechanismen zu lernen, um sie besser zu kontrollieren. „Vor allem dem Kinde zuliebe.“

Quelle: Spiegel-online vom 15.04.2016

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