Sonderjustiz gegen Flüchtlinge: Ungarns gigantische Abschiebe-Show

Von Keno Verseck

Flüchtling mit Bewachern in Szeged
REUTERS

Flüchtling mit Bewachern in Szeged

14-Jährige gelten juristisch als Erwachsene, eine echte Beweisaufnahme gibt es nicht, die Verteidigerin chattet während der Verhandlung: In Blitzverfahren urteilt Ungarn sogenannte Grenzverletzer ab – mehr als 3000 bisher.

 

Ein langer Flur im Gebäude des Amtsgerichts der südungarischen Großstadt Szeged, nahe der serbischen Grenze, neun Uhr morgens. Die Polizisten haben Angeklagte mit Handschellen gefesselt und ihnen die Schnürsenkel aus den Schuhen genommen.

So sitzen sie nun schweigend auf Holzbänken, drei Iraner und zwei irakische Kurden. Müde Gesichter, unrasiert, die Kleidung schon Wochen getragen und nicht gewaschen. Jeder trägt einen kleinen Rucksack bei sich, in dem die ganze Habe steckt. In einer halben Stunde wird ihre Verhandlung beginnen.

Die Angeklagten sind sogenannte Grenzverletzer: Flüchtlinge, die die ungarische Staatsgrenze illegal übertreten haben und dabei gefasst wurden. Nun werden sie in einem „beschleunigten Verfahren“, wie es offiziell heißt, verurteilt. Die Strafe steht praktisch schon fest, sie wird auf Abschiebung und ein- bis dreijähriges Einreiseverbot lauten.

Ein Fließbandprozess der ungarischen Schnell- und Sonderjustiz gegen Flüchtlinge, so wie er seit dem 15. September vergangenen Jahres bisher schon in rund 3000 Fällen stattfand. Zuvor waren in Ungarn schärfere Asyl- und Grenzschutzgesetze in Kraft getreten.

Die ungarische Bürgerrechtsorganisation TASZ, das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und Amnesty International sehen darin einen juristischen Trick. Ungarn verletze Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention. Der verbietet, Flüchtlinge für einen illegalen Grenzübertritt aus Krisengebieten oder nicht sicheren Ländern zu bestrafen.

Rechtsstaatliche Bedenken haben Juristen auch wegen mancher Regeln der „beschleunigten Verfahren“ gegen Flüchtlinge. So kann gegen Personen mit ungeklärter Identität ermittelt werden, minderjährige „Grenzverletzer“ ab dem 14. Lebensjahr gelten rechtlich als Erwachsene, Anklageschrift oder Urteil müssen zudem nicht mehr zwingend schriftlich in die Muttersprache von Angeklagten übersetzt werden.

„Pauschale Beweisaufnahme und pauschale Urteile“

Die ungarische Anwältin Tímea Kovács, die in Szeged im Auftrag der ungarischen Nichtregierungsorganisation Helsinki Komitee die Situation der Flüchtlinge vor Gericht und in Aufnahmelagern überwacht, sieht in der Sonderjustiz gegen Flüchtlinge nicht nur einen Rechtsverstoß, sondern findet die „beschleunigten Verfahren“ auch „völlig formaljuristisch und sinnlos“.

„Eigentlich müsste man alle Angeklagten individuell behandeln und ernsthaft versuchen festzustellen, ob wirklich eine Straftat vorliegt“, sagt Kovács. „Stattdessen gibt es nur eine pauschale Beweisaufnahme und pauschale Urteile. Außerdem können die meisten Urteile nicht vollstreckt werden, da Serbien die zu Abschiebung Verurteilten nicht zurücknimmt oder die Verurteilten nicht abgeschoben werden können, weil sie keine Personaldokumente haben.“

Trotzdem leistet sich Ungarn die gewaltige, kostspielige Gerichtsshow. Sie ist Teil der Drohkulisse, mit der das Land Flüchtlinge abschrecken will. Hunderte Kilometer lange Zäune, dazu ein neues Elendslager bei Röszke und dann eben auch noch die Gefahr eines Gerichtsverfahrens – all das soll verhindern, dass sich verzweifelte Menschen über die Grenze wagen. Selbst bei Urteilen, die nicht vollstreckt werden, gilt: Verängstigte Flüchtlinge, die die Gerichtstortur hinter sich haben, werden noch weniger in Ungarn bleiben wollen als ohnehin schon. Die einen kommen nicht rein, die anderen reisen schnell weiter – in jedem Fall hat die Regierung, was sie will: keine Flüchtlinge im Land.

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Nun sind die drei Iraner und die beiden irakischen Kurden an der Reihe. Sie wurden 56 Stunden vor Verhandlungsbeginn von der ungarischen Grenzpolizei aufgegriffen, da waren sie in der Nähe des südungarischen Dorfs Ásotthalom gerade unter dem Stacheldrahtzaun an der serbisch-ungarischen Grenze durchgeklettert.

Gelangweilter Richter, daddelnde Anwältin

Der Richter liest aus den Zeugenaussagen der Grenzpolizisten und aus den Polizeiverhören der Angeklagten vor. Sie hatten den Grenzübertritt zugegeben. Aber jetzt, vor Gericht, wollen sie sich nicht mehr äußern und sich auch nicht schuldig bekennen. Der Staatsanwalt beantragt für sie Ausweisung und ein Jahr Einreiseverbot. Die Pflichtverteidigerin verschickt während der Verhandlung Botschaften mit Herzchen und Smileys von ihrem Handy, prüft den Lack ihrer Fingernägel. Sie selbst hat mit den Angeklagten nicht gesprochen, sondern nur die Verhörprotokolle gelesen. Sie sei schon bei 50, 60 solcher Verhandlungen gewesen, sagt sie später.

Verhandlungspause vor der Urteilsverkündung. Said Starberhan, 42, Kurde aus der nordirakischen Stadt Mahmur, von Beruf Bauarbeiter, sitzt auf der Holzbank auf dem Flur und blickt verloren. Ein kleiner Mann mit grauen Haaren, der um Jahre älter aussieht, als er ist. Als die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ vor zwei Jahren Mahmur besetzte, floh er mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern weiter nach Norden, so erzählt er es. Ein Bruder wurde auf der Flucht erschossen, seine Eltern starben später in einem Flüchtlingslager in der Stadt Erbil. „Die letzten beiden Jahre haben mich so alt gemacht“, sagt Starberhan.

Ausweisung und ein Jahr Einreiseverbot

Weil er außer seiner Schwester niemanden mehr hat, beschloss er vor zweieinhalb Monaten, irgendwohin nach Europa zu fliehen. „Ich möchte in Sicherheit leben“, sagt er, „in einem normalen Land, und irgendetwas machen, was nützlich ist.“

Um 10.22 Uhr verkündet der Richter das Urteil. Es lautet: Ausweisung und ein Jahr Einreiseverbot. Die Begründung sagt der Richter mit verschränkten Armen auswendig auf, er hat schon zwei, drei Dutzend derartiger Verhandlungen geführt. Diese ist nach gut einer Stunde beendet.

Das Urteil gegen die Angeklagten wird auch in diesem Fall nicht vollstreckt. Sie werden einige Tage in ein Haftzentrum kommen, dann in ein offenes Flüchtlingslager. Von dort aus werden sie vermutlich in Richtung Westen weiterziehen – ungarische Behörden hindern sie nicht daran.

„Ich komme von einem Ort voller Schmerzen“, sagt Said Starberhan zum Abschied. „Ich möchte irgendwohin, wo ich vergessen kann.“

Und der Richter – was sagt er zu den „beschleunigten Verfahren“? Und dazu, laufend Urteile zu fällen, die nicht vollstreckt werden? Findet er das sinnlos? Der Richter lächelt. Er sagt: „Ich bin nicht befugt, mich zu äußern.“

Schon damals kritisierten ungarische und internationale Asylrechtsexperten die Gesetzesverschärfungen und die Schnellverfahren als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen europäisches Asylrecht. So erklärte die ungarische Regierung das Überwinden der Grenzzäune ab dem 15. September 2015 zum Straftatbestand und gleichzeitig Serbien als sicheres Drittland.

Quelle: Spiegel-online vom 28.05.2016

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Ulrike
Ulrike
7 Jahre zuvor

Ungarn hält sein Land sauber. Da wird an das eigene Volk gedacht.