WIRTSCHAFT – MESSEN „Von allen Seiten überholt“ – Wie Deutschland seine Weltmarktstellung verspielt

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Messe Berlin: An vielen Standorten in Deutschland fallen Veranstaltungen schon zum zweiten Mal aus. Das hat dauerhafte Konsequenzen
Quelle: picture alliance / Bildagentur-o

Jetzt also auch Italien. Ab Mitte Juni finden dort wieder Messen statt, vermeldet Außenminister Luigi Di Maio beim Nachrichtendienst Twitter. „Internationale Messen sind ein strategischer Sektor für das Land, der unterstützt werden soll“, schreibt der Politiker und schickt versehen mit einem Ausrufezeichen noch die Botschaft „Avanti“ hinterher, also übersetzt „nach vorne“.

Italien begibt sich damit auf einen Weg, den zuletzt auch etliche andere Länder in Europa eingeschlagen haben: Spanien zum Beispiel, Großbritannien, Österreich und die Schweiz oder auch Belgien und die Niederlande. In Deutschland dagegen, das international als Messeland Nummer eins gilt, fehlt weiterhin jegliche Perspektive.

„In Asien finden Messen schon sehr lange wieder statt. Nun rückt der Wettbewerb auch an unsere Landesgrenzen. Trotzdem gibt es keinerlei Signale für eine Öffnung“, kritisiert Henning Könicke, der Vorsitzende des Fachverbands Messen und Ausstellungen (FAMA).

Weichen müssen jetzt gestellt werden

Nicht mal Gespräche finden statt, beklagt Könicke gegenüber WELT. Stattdessen gebe es politisch einen kompletten Stillstand. „Wir verstehen, dass sich aktuell so wenig Menschen wie möglich treffen sollen und auf Messen das genaue Gegenteil passiert. Aber es geht uns ja auch nicht um eine sofortige Öffnung, sondern um ein Datum für Sommer oder spätestens Herbst, an dem wir uns orientieren und das Geschäft ausrichten können“, sagt der Unternehmer, der im Hauptberuf Geschäftsführer des privaten Messeveranstalters AFAG aus Nürnberg ist.

Entsprechende Sicherheits- und Hygienekonzepte gebe es schon lange. Und auch die Impfkampagne sei dann voraussichtlich weit fortgeschritten. Das müsse die Politik endlich anerkennen und in Szenarien umsetzen.

 

„Wenn nicht bald etwas geschieht, ist das komplette Jahr verloren“, warnt Könicke. Denn jede Messe benötige einige Monate Vorlauf. „Wenn erst im August gesagt wird, dass wir wieder starten dürfen, findet vor 2022 nichts mehr statt.“

Der Wegfall von Messen ist aber teuer für die deutsche Wirtschaft. Auf rund 28 Milliarden Euro schätzt das Münchener Ifo-Institut die volkswirtschaftlichen Effekte der Branchenschauen in Deutschland. Denn Profiteure des Messegeschäfts sind nicht allein die Veranstalter: Auch Hotels und Gastronomie, Fluggesellschaften und Taxis, Einzelhändler und Kultureinrichtungen verdienen Geld mit den Ausstellern und Besuchern von Messen, dazu Handwerker und Spediteure oder auch Sicherheitsdienste und Cateringfirmen.

 

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„Wenn sich die Entwicklung 2021 auch nur annähernd fortsetzt, dürften in den betroffenen Branchen mehr als 100.000 Arbeitsplätze gefährdet sein“, sagt Jörn Holtmeier, der Geschäftsführer des Verbands der Messewirtschaft (AUMA).

Und die Geschäftsabschlüsse der ausstellenden Wirtschaft durch auf Messen neu gewonnene Kunden und Aufträge sind in dieser Berechnung noch gar nicht berücksichtigt. Das ist Expertenschätzungen zufolge nochmal ein Vielfaches dessen.

Leidtragende sind vor allem kleine und mittlere Firmen, für die Messen Exportförderinstrumente sind. „Durch die fehlenden Präsentations- und Vertriebsplattformen werden in großem Umfang Geschäftschancen vor allem für den Mittelstand und Kleinbetriebe verhindert“, mahnt Holtmeier. Zudem hätten Messen auch Funktionen, die Außenstehende oft kaum wahrnehmen, wie etwa das Rekrutieren neuer Mitarbeiter oder schlicht den Austausch mit Partnern und Medien.

Dritte profitieren von deutscher Trägheit

Und der Schaden für alle Beteiligten könnte von Dauer sein. „Der Ruf der Branche leidet durch den aktuellen Stillstand“, sagt Holtmeier. Er sieht sogar den Marktführer-Status der deutschen Messewirtschaft im internationalen Wettbewerb bedroht: „Unsere Weltmarktstellung ist gefährdet.“

Das glaubt auch Björn Kempe. „Die Musik spielt künftig in Asien“, sagt der auf Messen spezialisierte Berater und Geschäftsführer von Expos Asia. „Standorte wie China, Dubai oder Singapur haben in den vergangenen Jahren stark aufgerüstet und profitieren nun von unserer Trägheit.“ Seit einigen Monaten schon finden in diesen Ländern Messen wieder statt als sei nichts gewesen.

 

An der „Auto China“ in Shanghai zum Beispiel haben sich unlängst 1000 Aussteller und Hunderttausende Besucher beteiligt. Aber auch schon im vergangenen Jahr gab es zum Beispiel die Möbelzuliefermesse Interzum in Guangzhou mit 800 Ausstellern und über 100.000 Besuchern.

Und das ist eigentlich nur ein Ableger. Das Original findet nämlich in Köln statt und rühmt sich, die gesamte Branche abzubilden. Anreisen darf diesmal aber niemand. Stattdessen findet die Interzum aktuell in der ersten Mai-Woche rein digital statt.

Andere europäische Standorte gefragt

Nun müssen die deutschen Messemacher aber nicht mehr nur neidisch nach Asien schauen. Auch in Europa kehrt Leben in die Hallen zurück. „Wir werden von allen Seiten überholt“, sagt AUMA-Chef Holtmeier merklich unzufrieden.

Den Anfang hat Spanien gemacht mit der Messe „Hospitality Innovation Planet“ Ende März in Madrid. Ende Juni soll zudem in Barcelona die Mobilfunkmesse Mobile World Congress stattfinden. Die Dimension wird zwar bei weitem nicht so sein wie in Vor-Corona-Zeiten. Immerhin gebe es aber wieder eine Perspektive und vor allem Planungssicherheit für die ausstellende Wirtschaft, heißt es aus der Branche.

Kein Unternehmen werde Geld in einen Messeauftritt investieren, wenn unsicher ist, ob die Veranstaltung überhaupt stattfinden kann. Zumal die Kosten je nach Messe und Standgröße in die Millionen gehen können. „Also wird auf andere Standorte ausgewichen“, glaubt Branchenkenner Kempe. „Es gibt auch in London, Paris und Mailand fast jedes Messe-Thema.“

Budget-Streichungen und Abwanderungen

Kempe glaubt nun, dass sich neue Schwerpunkte herausbilden können, die den deutschen Weltleitmessen Kunden abspenstig machen. „An vielen Standorten in Deutschland fallen Messen schon zum zweiten Mal aus. Das kann Aussteller dazu bewegen, auf andere Veranstaltungen auszuweichen oder sogar dauerhaft auf Messen zu verzichten, wenn das Geschäft trotzdem weiter gut gelaufen ist.“

Darauf deutet auch eine aktuelle Umfrage der IG Messewesen hin, nach der fast 50 Prozent der über 400 befragten Teilnehmer die Zahl ihrer Messeauftritte in den Jahren 2022 und 2023 reduzieren wollen, fast 37 Prozent planen zudem mit deutlich geringeren Budgets.

Für die heimischen Messemacher, die teils seit 15 Monaten mit geschlossenen Hallen leben müssen, ist das eine Horrorvorstellung. Schon jetzt ächzen die Unternehmen unter den Folgen der Corona-Krise. Gleich mehrere Standorte melden Verluste von mehr als 100 Millionen Euro für 2020, darunter die Deutsche Messe AG aus Hannover, die Kölnmesse oder die Messe Berlin.

 

Dieses Jahr droht den vorwiegend öffentlich-rechtlichen Gesellschafen ein ähnliches Szenario. „Ab September werden wieder einige ihre Gesellschafter nach 100 bis 150 Millionen Euro fragen“, prognostiziert Berater Kempe. Dabei wird längst massiv gespart: Es gibt zum Beispiel Stellenstreichungen bei etlichen Unternehmen, auch auf der Führungsebene.

Die Messe München etwa setzt zum 1.Juli drei von sechs Geschäftsführer vor die Tür. Andernorts werden erste Veranstaltungen aus dem Portfolio gestrichen, in Berlin zum Beispiel die Bautec und die Stage Set Scenery, in Köln die Photokina. Und weitere dürften folgen, wie Kempe fürchtet.

Weitere Absagen befürchtet

Längst durchforsten Beratungsgesellschaften die Bilanzen und Strukturen der Messemacher und suchen nach weiteren Einsparpotenzialen. Denn von den 380 geplanten Messen in 2021 ist nach AUMA-Angaben schon wieder mehr als die Hälfte ausgefallen oder verschoben. Es dürfte noch etliche weitere Absagen geben, sagt Verbandsgeschäftsführer Holtmeier voraus.

Dabei würden andere Länder längst zeigen, dass es geht. „Da kann man auch von der deutschen Politik durchaus erwarten, dass sie mit Prämissen arbeitet und Szenarien entwickelt.“ Denn es müsse schnellstens wieder Vertrauen geschaffen werden in den Messestandort Deutschland.

Holtmeier schlägt dafür regionale und nationale Modellprojekte vor. So könnten Erfahrungen gesammelt und damit ein Signal für das zweite Halbjahr gesendet werden. „Wer Bau- und Gartenmärkte öffnet, sollte auch regionale Handwerksmessen zulassen.“

Quelle: Welt vom 04.05.2021

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Ulrike
Ulrike
2 Jahre zuvor

Verspielt? Die ist doch schon längst weg? Haben das manche noch nicht kapiert?

Rosemarie Pauly
Rosemarie Pauly
2 Jahre zuvor

Das ist es doch, was sie alle wollten. Jetzt haben sie den Salat und sollen sehen, wie sie da irgendwann wieder raus kommen.
Alle Handys und Computer wegwerfen, vielleicht klappt es dann auch wieder mit dem Verstand.