Türkei: Erdogan schließt mehr als 2000 Schulen und gemeinnützige Einrichtungen

Fatih College der Gülen-Bewegung in Istanbul
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Fatih College der Gülen-Bewegung in Istanbul

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Die türkische Führung will Tausende Schulen, Gewerkschaften, Unis und soziale Einrichtungen schließen. Zudem wurden 11.000 Reisepässe für ungültig erklärt – und ein Neffe des Erzfeindes Gülen festgenommen.

Seit Mittwochabend gilt in der Türkei der Ausnahmezustand, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kann seither per Dekret regieren. Jetzt hat er das erste Dekret unterzeichnet – wie erwartet, geht die türkische Führung nach dem Putschversuch immer rigoroser gegen angeblich Verdächtige vor.

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In dem neuen Dekret ordnet Erdogan laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu Folgendes an:

  • Die Schließung von 1000 Privatschulen sowie von 1229 Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen, 19 Gewerkschaften, 15 Universitäten und 35 medizinischen Einrichtungen. Der Grund sind mutmaßliche Verbindungen zu dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht.
  • Die Zeit, in der Verdächtige ohne Anklage inhaftiert werden dürfen, wurde von vier Tagen auf 30 Tage erhöht.
  • Rund 11.000 Reisepässe vor allem von Staatsbediensteten wurden nach offiziellen Angaben für ungültig erklärt. An den Flughäfen müssen Staatsbedienstete nun eine Bescheinigung ihrer Behörde vorlegen, in der ausdrücklich steht, dass ihrer Ausreise nichts im Wege steht. Das gelte auch für Ehepartner und Kinder, hieß es. So sollen Beamte an einer Flucht ins Ausland gehindert werden.

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Das Parlament muss dem Dekret zwar noch zustimmen. Es ist jedoch nur eine einfache Mehrheit notwendig, über die die AKP von Erdogan verfügt. Nach dem gescheiterten Militärputsch vor gut einer Woche war der Ausnahmezustand am Mittwochabend für mindestens drei Monate verhängt worden. In dieser Zeit können auch Grundrechte eingeschränkt oder aufgehoben werden.

Rund 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter, Wissenschaftler und Lehrer wurden in der vergangenen Woche bereits suspendiert oder sogar festgenommen. Die türkische Führung will so gegen Anhänger der Gülen-Bewegung vorgehen und kündigte an, den öffentlichen Dienst von Gülen-Anhängern zu „säubern“.

Türkische Sicherheitskräfte haben unterdessen einen Neffen des islamischen Predigers Gülen festgenommen. Muhammet Sait Gülen sei im osttürkischen Erzurum, der Heimatgegend der Familie Gülens, in Gewahrsam genommen worden, berichtete der staatliche Sender TRT am Samstag.

 

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Die Entwicklung löst international Besorgnis aus. Die führenden Industrie- und Schwellenländer forderten von ihrem G20-Partner Türkei die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln. So wollten die G20-Finanzminister und -Notenbankchefs bei ihrem Treffen im chinesischen Chengdu betonen, dass die Stabilität der Türkei wichtig sei, hieß es aus G20-Kreisen. Eine entsprechende Formulierung sollte es in der G20-Erklärung geben.

Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wollte am Rande des G20-Treffens in der Millionenmetropole noch einmal länger mit seinem türkischen Amtskollegen sprechen. Er werde ihm natürlich „die große Besorgnis in Deutschland und überall in Europa“ erklären, sagte Schäuble. Er kündigte an, ihm zu sagen, dass das, was in der Türkei stattfinde, nicht dem entspreche, „was wir unter Demokratie und Herrschaft des Rechts verstehen“, so Schäuble.

CSU-Chef Horst Seehofer sprach sich für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. „Wenn man sieht, wie die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch den Rechtsstaat abbaut, müssen diese Verhandlungen sofort gestoppt werden“, sagte Seehofer den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth von den Grünen warf Erdogan im SWR vor, die Demokratie in der Türkei „totgesäubert“ zu haben. Als Konsequenz forderte sie die Aufkündigung des EU-Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir warf Erdogan vor, gewaltsam die Alleinherrschaft anzustreben. „Erst haben wir einen dilettantisch ausgeführten Putsch des Militärs erlebt. Jetzt folgt offensichtlich ein von langer Hand geplanter Staatsputsch“, sagte Özdemir der „Passauer Neuen Presse“.

Der Deutsche Richterbund hält die Reaktionen der Bundesregierung und der EU auf die Massenfestnahmen von Richtern und Staatsanwälten in der Türkei für zu lasch. Der Vorsitzende des Richterbunds, Jens Gnisa, sagte der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Samstag): „Die Bundesregierung erweckt bislang nicht den Eindruck, dass sie sich mit letzter Konsequenz für den Erhalt des Rechtsstaats und einer unabhängigen Justiz in der Türkei einsetzen will.“

Quelle: Spiegel-online vom 23.07.2016

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