TÜRKEI – Wie sehr schürte Erdogan selbst die Flüchtlingskrise?

Von Deniz Yücel | Stand: 25.11.2016 
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht der EU mit Öffnung der Grenzen. Meint er das Ernst?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht der EU mit Öffnung der Grenzen. Meint er das Ernst?

Quelle: dpa/EPA

Der türkische Präsident droht, die Grenzen wieder zu öffnen. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Erdogan den Andrang von Migranten im vergangenen Jahr bewusst entstehen ließ – oder sogar steuerte.

Die Drohung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Grenzen Richtung Europa für Flüchtlinge zu öffnen, reiht sich in seine bisherige Strategie gegenüber Brüssel ein: Einerseits hat die Türkei bis zu drei Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen, mehr als jedes andere Land der Welt.

Anderseits hat die Regierung von Anfang an versucht, aus der Flüchtlingskrise politisches und moralisches Kapital zu schlagen. Mehr noch: Einiges deutet darauf hin, dass Erdogan die Situation absichtlich eskalieren ließ, um Europa erpressen zu können – und genau das könnte jetzt wieder geschehen.

„Passt auf! Wenn ihr noch weiter geht, dann werden diese Grenzübergänge geöffnet. Lasst euch das gesagt sein!“, drohte Erdogan in seiner Rede am Freitag. Damit antwortete er auf die Forderung des Europaparlaments vom Donnerstag, wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei die EU-Beitrittsverhandlungen vorläufig einzufrieren.

Eine amtlich bestätigte Öffnung der Grenzen kann Erdogan nicht im Sinn haben. Woran er vermutlich stattdessen denkt: eine Rückkehr zur Politik des systematischen Wegsehens, die seine Regierung schon bei der Massenbewegung des vergangenen Jahres zeigte.

Der Istanbuler Stadtteil Aksaray oder Basmane, das Bahnhofsviertel von Izmir, entwickelten sich damals zu offenen Treffpunkten für Schleuser, allabendlich brachen die Busse mit den Flüchtlingen genauso ungehindert Richtung Europa auf, während an den Küsten meist völlig überfüllte Schlauchboote in See stachen.

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Auch andere, konkretere Indizien stützen die These von der interessierten Untätigkeit der Regierung Erdogan: So waren im nordwesttürkischen Landkreis Ayvalik, neben Bodrum die wichtigste Hauptdurchgangsstation, vor Beginn der Flüchtlingskrise 250 Polizisten und Gendarmen tätig.

Ein Jahr später, nachdem Hunderttausende über Ayvalik auf die griechische Insel Lesbos gelangt waren – und mehrere Hundert bei dem Versuch ums Leben kamen –, war die Zahl der Sicherheitskräfte in der fraglichen Provinz mehr oder weniger gleich geblieben, wie Recherchen der „Welt“ ergaben.

Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU

An diesem systematischen Wegsehen änderte sich erst etwas, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Oktober 2015, kurz vor der Wiederholung der Parlamentswahl in der Türkei, nach Istanbul reiste, um den Flüchtlingsdeal einzufädeln. Danach war zu beobachten, wie die Sicherheitskräfte punktuell versuchten, die im Winter noch gefährlicheren Überfahrten zu verhindern.

Nun gab es immer wieder Meldungen über festgenommene Schleuser und aufgegriffene Flüchtlinge. Doch im zweiten oder dritten Versuch schafften die Migranten den Schritt nach Europa dann doch. Im Preis für die Überfahrt gaben die Schlepper eine Garantie: Wer beim ersten Mal aufgegriffen wird, muss für den zweiten Versuch nicht noch einmal bezahlen.

Die Flüchtlinge waren, davon sind auch türkische Menschenrechtler und europäische Diplomaten überzeugt, für die türkische Regierung ein willkommenes politisches Druckmittel gegen die EU. Vermutlich war es Erdogan auch recht, einen Teil der Flüchtlinge auf diese Weise loszuwerden.

Und schließlich nutzte er diese humanitäre Tragödie als moralischen Trumpf. Nach seiner Lesart trug nämlich nur Europa die Verantwortung dafür, dass sich die Ägäis in ein Massengrab verwandelte. In seiner Reaktion auf den Beschluss des Europaparlaments verwies Erdogan erneut auf den Fall des kleinen Ailan Kurdi, des dreijährigen Jungen aus dem kurdischen Teil Syriens, der 2015 in der Ägäis ertrank – ganz so, als ob die Türkei keine Mitverantwortung trüge.

Keine Beweise, dass die Türkei den Flüchtlingsstrom lenkt

Untätigkeit kann eine Strategie sein. Manche Stimmen in der Türkei gehen jedoch einen Schritt weiter: Sie glauben, dass der türkische Staat den Flüchtlingsstrom nicht nur geduldet, sondern bewusst gesteuert hat. Insbesondere Politiker der prokurdischen HDP behaupten dies immer wieder.

Beweise konnten sie bislang freilich nicht vorlegen. Und natürlich muss man berücksichtigen, dass die durch die Verhaftung ihrer Vorsitzenden und die Absetzung ihrer Bürgermeister bedrängte HDP ein Interesse daran hat, die türkische Regierung in Misskredit zu bringen.

Ähnlich schwer einzuschätzen sind Informationen, wonach der türkische Geheimdienst im September 2015 eine Massenwanderung von mehreren Tausend Menschen Richtung Bulgarien und Griechenland über die Grenzstadt Edirne gezielt auslöste. Die Motive der Flüchtlinge waren klar: Der Tod des kleinen Ailan hatte auch sie verängstigt. Unklar aber blieb, wer hinter der Facebook-Gruppe stand, über die der Marsch nach Edirne organisiert wurde.

Aus Polizeikreisen wurde der „Welt“ später zugetragen, dass der türkische Geheimdienst dahintergesteckt habe. Mit Tausenden Flüchtlingen an der Landgrenze zur EU habe man die Drohkulisse für Brüssel verstärken wollen. Allerdings stammte diese Information von Gülen-Anhängern unter den Beamten, also ebenfalls von interessierter Seite.

Womöglich könnten sich diese Gerüchte und Spekulationen klären, wenn man eine Schlüsselfrage der Flüchtlingskrise beantworten könnte: Wohin floss eigentlich das Geld der Migranten?

Schlepper haben rund eine Milliarde eingenommen

Zwischen Januar 2015 und März 2016 kamen dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge ziemlich genau eine Million Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an, wofür sie pro Person zwischen 650 und 1500 Dollar bezahlt hatten. Bei einem angenommenen Durchschnittspreis von 1000 Dollar wären das eine Milliarde Dollar, die die Schlepperorganisationen mit der Verzweiflung der Menschen eingenommen hätten.

Wohin der Großteil dieses Geldes floss, ist nicht aufgeklärt. Einigermaßen sicher kann man nur sagen: Die Flüchtlinge begegneten den Großverdienern nie selbst. Es waren nicht die Kontaktleute an den Treffpunkten, die Fahrer und Begleiter auf dem Weg zur Küste. Vermutlich wussten nur die wenigsten dieser Mittelsmänner, für welche kriminelle Organisation sie arbeiteten. Und ob diese mit staatlichen Kräften in Verbindung standen.

Seit der Schließung der Balkanroute im März und dem Inkrafttreten des Rücknahmeabkommens zwischen der Türkei und der EU im April gingen die Zahlen drastisch zurück: Im Oktober 2015 strandeten 2970 Flüchtlinge auf griechischen Inseln, im selben Monat des Vorjahres, auf dem Höhepunkt der Krise, waren es 211.663.

Arbeitsverbot für Flüchtlinge erhöhte den Druck massiv

Doch diese Menschen setzten sich nicht auf Befehl von wem auch immer einfach in Bewegung. Selbst wenn die Türkei die Grenzen „öffnen“, also die illegale Ausreise wieder dulden sollte, heißt das noch nicht, dass sich sofort wieder Hunderttausende auf den Weg nach Europa machen würden.

Dafür müssten, so vermuten türkische Menschenrechtler, weitere Faktoren hinzukommen: Die Regierung müsste die Arbeits- und Lebensbedingungen der im Land lebenden syrischen Flüchtlinge drastisch verschlechtern oder ihnen womöglich mit einer Abschiebung nach Syrien drohen, sodass sie aus Verzweiflung zu einer Reise aufbrächen, von der sie wüssten, dass sie wohl in Griechenland endet.

Tatsächlich waren es bis zum Flüchtlingsdeal mit der EU auch die schwierigen Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der Türkei, die viele zum Aufbruch bewegten – das damalige Arbeitsverbot der Regierung Erdogan erhöhte den Druck entscheidend.

Erdogan ist auf Flüchtlingsdeal angewiesen

Dass Erdogan seine Drohung wahr macht, ist indes nicht wahrscheinlich. Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass er mit einer Aufkündigung des Flüchtlingsdeals droht. Ähnlich äußerte er sich schon kurz nach Abschluss des Abkommens – und zwar noch konkreter als jetzt.

Damals forderte er zugleich die Umsetzung der mit Brüssel vereinbarten Visumerleichterungen für türkische Bürger. Diese hat er noch immer nicht erhalten. Die Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche, gegen die er nun wettert, ist aber kaum zu erwarten. Das müssten die EU-Mitgliedstaaten entscheiden – nicht das Europaparlament. Und es gibt keine Anzeichen, dass die Regierungen diesen Schritt machen.

Tatsächlich könnte sich Erdogan ein Platzen des Deals jetzt zuallerletzt leisten: Außer dem mexikanischen Peso hat keine andere Währung der Welt derart unter dem jüngsten Höhenflug des Dollar gelitten. Volle 18 Prozent büßte die Lira binnen elf Monaten gegenüber dem Dollar ein und 15 Prozent gegenüber dem Euro.

Gift für die ohnehin strauchelnde türkische Wirtschaft. Auch deshalb nehmen europäische Diplomaten die jüngsten Drohungen eher gelassen. Angesichts der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise dürfte Erdogan wohl kaum die völlige Eskalation riskieren.

Deutschland prüft neue Standorte für Tornados

Trotzdem scheint man auch in Berlin bemüht, die Abhängigkeit vom Unsicherheitsfaktor Erdogan verringern zu wollen. Nach Informationen der „Bild“ prüft die Bundeswehr derzeit alternative Standorte für die deutschen Tornado-Kampfflugzeuge, die ihre Einsätze im Rahmen der Anti-IS-Koalition vom türkischen Incirlik aus fliegen.

Während des Streits über Flüchtlinge und Menschenrechte hatte Ankara Bundestagsabgeordneten den Besuch der deutschen Einheiten verwehrt. Offenbar will man sich in Berlin nicht mehr so leicht erpressen lassen.

Quelle: Welt-online vom 26.11.2016

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Illo
Illo
7 Jahre zuvor

Europa muss sich endlich mal stark machen und die Geschicke in die eigene Hand nehmen. Das heist, dass man gegebenenfalls auch mal die Drecksarbeiten selbst machen muss.
Oder glaubt jemand, dass Erdogan die Flüchtlinge gewaltlos bei sich festhält?

Wir dürfen uns nicht erpressbar machen!

Birgit
7 Jahre zuvor

Der will die Kurden los haben und sich deren Gebiet ganz unter den Nagel reißen, so sieht es zumindest aus.

Geronimo
Geronimo
7 Jahre zuvor

Der Erdogan führt die Brüsseler Deppen-Riege mit dem Nasenring durch die Manege. Die Bunzlerin schweigt sich ihm gegenüber mit ihren „Werten“ aus. Ganz anders gegenüber Trump, da riskiert sie ihr loses Mundwerk. Der Stein…usw. hält sich auch bedeckt, nur gegen Trump getraut er sich, unhöflich zu sein.